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Seit dem 1. Januar sendet MTV in Deutschland nur noch verschlüsselt. Das alles dominierende Jugendmedium der 80er und frühen 90er Jahre verschwindet in der Nische. Selbst schuld? Ein Rückblick.

Es war ein letzter Aufschrei. „Play more damn videos!“ rief Justin Timberlake den Machern von MTV entgegen. Das war vor vier Jahren, bei den Video Music Awards in Las Vegas. Timberlake wollte keine Dating-Shows mehr sehen, keine neuen „Jackass“-Folgen und auch keine Sendungen über gepimpte Autos. Er wollte sein altes MTV zurück, den Musikkanal, der seine Jugend – und die von Millionen Teenagern auf der Welt – geprägt hatte. Doch den gab es da schon lange nicht mehr.

Es gehört zu den Glaubenssätzen von Pop-Nostalgikern, den Niedergang von MTV zu betrauern. Dabei hat der Musikkanal nur getan, was die meisten Wirtschaftsunternehmen tun, wenn der Markt sich verändert – er hat reagiert, sich angepasst, Neues probiert. Was blieb auch übrig? Die Musik spielte seit langem woanders, bei YouTube, MySpace, Last.fm & Co. Die Entwicklung ist bekannt.

MTV hat sie früh erkannt. Eines schien klar – wollte der Sender überleben, musste er sich radikal neu erfinden. So wurde aus MTV ein allgemeiner Jugendsender, in dem Musik nur noch eine Nebenrolle spielte. Ob man die neuen Formate mochte oder nicht – manche waren innovativ, viele wurden geguckt.

Fremdschämen als Geschäftsmodell

Im Rückblick wirken diese Sendungen, als hätte MTV versucht, das Fremdschämen zum Geschäftsmodell zu machen. Man lachte über verzweifelte Mütter und kuppelnde Töchter („Date My Mum“), über rodelnde Zwerge in Gummireifen („Jackass“) oder die dysfunktionale Familie eines alternden Rockstars („The Osbournes“). Eine Weile hatte MTV das Beinahe-Monopol auf Reality-Shows mit dem gewissen Peinlichkeitsfaktor. Vielleicht liegt der Niedergang des Senders auch daran, dass dieses Monopol vorbei ist. Wer darauf Wert legt, kann sich inzwischen überall fremdschämen – bei Casting-Kandidaten auf RTL, planlosen Auswanderern, manchen Familien in „Die Supernanny“ und vielen anderen Gästen im Privatfernsehen.

Wer heute einschaltet, vergisst leicht, dass MTV in den Anfangstagen zum Teil Avantgarde war. Als der Sender 1981 startete, liefen Clips von Postpunk-Bands wie Devo oder Talking Heads gleichberechtigt neben Rod-Stewart- oder Mike-Oldfield-Produktionen. Zugegeben, die Neigung zu anspruchsvollen Künstlern war zum Teil aus der Not geboren. Viele Videos standen nicht zur Auswahl, und die, die man verwenden konnte, stammten nicht selten von Kunstakademie-Bands, die das Medium Video früh entdeckt hatten. Aber auch sonst verschaffte MTV mancher Subkultur Gehör. Die Sendung „Yo! MTV Raps“ etwa bereitete den Weg zum Massenerfolg des HipHops. Ohne den Musiksender wäre das „CNN der Schwarzen“ (Chuck D.) wohl nur ein Lokalsender geblieben.

Retter der Plattenindustrie

Dabei waren es nicht nur die Musiker, die den Erfolg des Senders ausmachten. Auch mancher Moderator trug dazu bei. Heute kaum noch vorstellbar, dass man sich in den 90ern traf, um gemeinsam Ray Cokes zu schauen – einen Moderator, dessen Alter und Aussehen im völligen Widerspruch zum Jugend- und Schönheitsfetisch des Senders standen. In seinen besten Zeiten konnte MTV auch über sich selbst lachen.

Den Labels konnte der Erfolg nur Recht sein. Früh galt MTV als Retter der Plattenindustrie. Alleine in der ersten Hälfte des Jahres 1983 stieg der Absatz von Tonträgern um 10 Prozent. Im Bereich der Popkultur war MTV lange Zeit der entscheidende Faktor. Über die Videos beeinflusste der Sender Musikgeschmack und Mode einer ganzen Generation und verhalf Megastars wie Madonna, Michael Jackson oder Prince zum Erfolg. Ob solche Massenphänomene heute überhaupt noch möglich sind, ist fraglich. Wahrscheinlich ist die Popkultur zu fragmentiert.

Genau deshalb kann es einen Konsenskanal für die Jugend nicht mehr geben. Insofern ist der Bedeutungsverlust von MTV eine logische Entwicklung. Und wer weiß – vielleicht blüht der Sender im Bezahlfernsehen noch mal auf. In der Befreiung vom Quotendruck liegen auch Chancen. Mag sein, dass MTV den Weg der Schallplatte geht – vom Massenmedium zum Liebhaberobjekt. Falls nicht, liegt das wahrscheinlich in der Natur der Sache. Popkultur vergeht. 30 Jahre sind schon ganz schön viel.