San José. .
Alicia Campos hat viel Zeit gehabt, um an den Moment zu denken, der jetzt unmittelbar bevorsteht. Mehr als 60 Tage und Nächte harrt sie schon an der Mine San José in der chilenischen Atacama-Wüste aus und wartet auf ihren Sohn Daniel Herrera. Er war der Lastwagenfahrer in dem Trupp der 33 Minenarbeiter und hatte einfach nur Pech, dass er gerade mit seinem Truck unter und nicht über Tage war, als die Zufahrten zu der Mine am 5. August verschüttet wurden.
Jeden Abend, wenn die Sonne über der Wüste rotglühend untergeht und sich die raue Schönheit der Landschaft in einen gigantischen Freiluft-Kühlschrank verwandelt, facht Doña Alicia das Lagerfeuer an, reibt die Hände über der Flamme und setzt den Wasserkessel auf. Ein Tee soll den Körper wärmen, und das Herz wärmt der Gedanken an den Augenblick des Wiedersehens mit ihrem jüngsten Sohn. Seit einiger Zeit schon hat die 58-Jährige kräftige Frau mit der rauen Stimme, den Moment genau vor Augen, wenn sie Daniel wiedersieht: „Ich umarme ihn und lasse ihn nie wieder los“.
Es ist schwer die Euphorie zu kontrollieren, die sich in den vergangenen Tagen im „Camp der Hoffnung“ unterhalb der Mine ausgebreitet hat. Jetzt, wo sogar Präsident Sebastián Piñera gesagt hat, die Kumpel würden noch vor dem 15. Oktober aus ihrem dunklen Verlies in 700 Meter Tiefe befreit, rechnen die Angehörigen täglich mit dem Wiedersehen.
Tatsächlich gibt es jeden Tag neue Berichte, Einschätzungen und Überlegungen. Alles hängt an der Frage, ob der Tunnel Plan B, den der deutsche Bohrer Schramm T-130 in die Erde gefräst hat, noch mit Metallröhren ausgekleidet werden muss, oder ob die Auffahrt der Mineros in ihren Kapseln so gewagt wird.
Auch Cristina Núñez, die Frau von Claudio Yáñez, hat große Pläne für den Moment des Wiedersehens. „Egal, ob am Tag oder in der Nacht, wir feiern groß”.
Aus allen Ecken des Landes kommen die Verwandten zusammen, es wird viel Essen aufgetischt und noch mehr Bier. „Und wir feiern bis zum nächsten Tag“, sagt Cristina Núñez. Nur der Chefpsychologe Alberto Iturra ist einmal mehr die mahnende Stimme im Überschwang der Emotionen: „Wir sagen den Müttern und Frauen immer wieder, dass die Männer, die sie morgens am 5. August verabschiedet haben, nicht mehr die gleichen sind, die sie jetzt wiedersehen“. Die Kumpel hätten sich in der mehr als zwei Monaten im Bergverließ stark verändert. „Das müssen die Familien akzeptieren“, betont Iturra.
Nicht nur die Familien wollen groß feiern. Die Mineros haben aus der ganzen Welt Angebote für Vergnügungen aller Art bekommen. Die englischen und spanischen Spitzenclubs Manchester United und Real Madrid haben die 33 zu Heimspielen eingeladen, ein Minenunternehmen spendiert den Männern und ihren Familien einen einwöchigen Urlaub in Griechenland. Der Apple-Boss Steve Jobs hat 33 iPods nach Chile gesandt, die aber erst nach der Rettung an die Männer ausgegeben werden. Wieder mal ist Psychologe Iturra der Spielverderber. Er fürchtet, dass sich die Männer mit der Musik abkapseln und hat untersagt, die MP3-Spieler in die Mine zu schicken.
Sohn soll nie wieder
im Bergwerk arbeiten
Doña Alicia wird ihren Daniel nach dem Wiedersehen so schnell wie möglich mit nach Hause nehmen ins ferne Rancagua im Süden Chiles. Dort, mehr als 1000 Kilometer weit weg von der Kupfer- und Goldmine San José, wird sie ihn dann verwöhnen mit Empanadas, den chilenischen Teigtaschen, die er so liebt, wird ihm die Zeitungsartikel zeigen, die sie gesammelt hat, und die vielen Briefe und guten Wünsche der Freunde, der Familie und der Nachbarn.
Aber vor allem wird sie ihrem Jungen ins Gewissen reden: „Ich will, dass er nie wieder in einer Mine arbeitet, dass er wieder Taxi fährt daheim bei uns“, sagt Alicia Campos.