Wladiwostok.

Der Tatzenabdruck ist eindeutig. Ein runder Ballen, vier Zehen. Acht Zentimeter im Schlamm. „Ja“, sagt Sergey Aramilev, Koordinator im russischen WWF-Büro, „der Tiger war hier. Gestern.“ Am Ende eines 45-minütigen Höllenritts mit einer russischen, spartanisch sozialistischen Alternative zum schnittigen Geländewagen westlicher Prägung, in die Tiefen des Schutzgebietes im Fernen Osten Russlands, findet Sergey die Spur des Tigers. Hier in der Primorye-Region, neun Flugstunden von Moskau, 80 Kilometer von der Metropole Wladiwostok und 50 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt, haben die letzten ihrer Spezies überlebt.

Tausende dieser riesigen Raubkatzen durchstreiften einst das Gebiet jenseits des Urals, große Teile Chinas und Koreas. Nachdem die Großkatze im letzten Jahrhundert fast ausgestorben war, leben heute in der Primorye-Region, die durch den Amur beherrscht wird, wieder 500 Tiere. Seit zehn Jahren ist der Bestand stabil. Dank des unermüdlichen Einsatzes russischer und internationaler Umweltschützer wie dem WWF, dank finanzieller Unterstützung aus dem Westen. Jeder einzelne Tiger hat, so scheint’s, seinen ihn beschützenden Menschen.

Dennoch ist die Population nicht gesichert. Auch wenn Frank Mörschel, für den WWF internationaler Koordinator für die Ökoregion Amur, „verhaltend optimistisch“ hofft, den Bestand in den nächsten zwölf Jahren auf 800 Tiere ausbauen zu können. Dazu wäre eine Erweiterung des Schutzgebietes notwendig.

Auch in Richtung China. Die Regierungen in Russland und im Reich der Mitte signalisieren Interesse. Im Jahr des Tigers möchte Peking die in ihrem Territorium ausgestorbene große Raubkatze wieder ansiedeln. Leicht ist das Vorhaben nicht. Denn in dem Riesenreich wird der „Berggeist“ verehrt und gleichzeitig brutal gejagt. Der Tiger ist Symbol für Kraft und Gesundheit. Obwohl die klassische chinesische Medizin seit Jahren echte Tigeressenzen durch pflanzliche Alternativen ersetzt, schwören alte Wunderheiler weiterhin auf die Potenzsteigerung aus Penisextrakten oder die Linderung von Rheumaleiden aus Knochensegmenten. Auf dem Schwarzmarkt werden immer noch Preise für einen toten Tiger gezahlt, von dem ein nach dem Zusammenbruch der UDSSR verarmter Bauer ein Haus bauen kann.

Nicht zu unterschätzen ist die Jagdbegeisterung der Russen. „Auf zwei Millionen Bewohner der Primorye-Region kommen 50 000 Jäger“, sagt Tatjana Aramileva, Leiterin der Jagdbehörde in Wladiwostok. Ihr Büro in dem schlichten, grauen Plattenbau spiegelt mit den ausgestopften „Trophäen“ diese Lust am Töten wider. Von der Wand grüßt ein kapitaler Hirsch, auf dem schmucklosen braunen Stuhl neben dem PC thront ein Wildschwein. Tatjana legt es schwungvoll in die Ecke und betont – nicht nur einmal an diesem Vormittag: „Wir arbeiten effektiv.“

2009 habe die Jagdbehörde 1850 Strafverfahren wegen Wilderei eingeleitet. Alle seien abgeschlossen. Alle Wilderer verurteilt? „Na, ja“, sagt Tatjana, ihre Mitarbeiter gäben die Akten ans Gericht. „Was dann passiert. Darauf haben wir keinen Einfluss.“ Nach einigen Tagen in der Region und zahlreichen Gesprächen mit Anti-Wilderern klingt die Argumentation vertraut.

Die Korruption blüht

„Die Gesetze sind ausreichend, aber wir brauchen ein anderes Strafsystem“, gibt Tatjana irgendwann zu. Freunde von Militär und Politik bräuchten sich keine Sorgen zu machen, angeklagt und verurteilt zu werden. Korruption nennt man das im Westen. Im russischen WWF-Büro hat man einen Anwalt engagiert, um die Nachhaltigkeit von Anzeigen zu überprüfen.

Der Kampf um das Überleben des Amur-Tigers ist ein Kampf an vielen Fronten, ein Kampf um natürliche Ressourcen. Die illegale Jagd auf Wild macht ihn hungrig, treibt ihn in die Dörfer, lässt ihn Hund oder Pferd reißen, was wiederum die Angst der Bauern vor dem König der Taiga steigert. Die illegale Waldrodung nimmt ihm seinen Lebensraum, genau wie die Zerstörung durch unkontrollierte Waldbrände. Veraltete Abbautechniken zum Beispiel von Erzen vergiften die Naturräume. Moderne Fernstraßen, Öl- und Gaspipelines, die die russische Regierung in den nächsten Jahren in der Region bauen lassen will, zerstören sein Territorium. Menschliche Eingriffe bergen die massivsten Gefahren für das Ökosystem der Region und den Bestand des Tigers.

Seltener Tazenabdruck

Da braucht jeder Tiger seinen menschlichen Fürsprecher. Einen, der warnt, wie Viktor Gaponov, Leiter der staatlichen Tiger-Inspektion. „Wenn der Tiger verschwindet“, sagt er, „dann taucht der Wolf wieder auf“. Das brächte die Bauern zum Überlegen, lasse sie häufiger wieder lächeln, wenn sie den eindeutigen, seltenen Tatzenabdruck im Schlamm entdecken.