Concepción. .
Es gibt diese Bilder von Überwachungskameras, die ahnen lassen, mit welcher Wucht das Beben in den Morgenstunden des Samstags Chile traf. Die Uhren schlagen 3.34 Uhr, als Menschen in Schlafsälen in Panik aus ihren Betten springen, dann verwackeln die Bilder so sehr, dass für Sekunden nichts mehr zu erkennen ist, weil die Erdstöße von 8,8 auf der Richterskala alles erzittern lassen, was sie nicht zerstören. Mindestens 300 Tote zählen die Behörden des schmalen südamerikanischen Landes, rechnen aber mit noch mehr Opfern, da Teile der besonders betroffenen Provinzen Araucania, Bíio-Bíio und Maule im Zentrum des Landes noch immer unzugänglich sind. Die Infrastruktur des Landes ist extrem beschädigt. Die Erdstöße waren so stark, dass Ausläufer noch in der 3500 Kilometer entfernten brasilianischen Wirtschaftsmetropole Sao Paulo zu spüren waren.
Das Epizentrum eines der schwersten Beben in der Geschichte lag nach Angaben der US-Erdbebenwarte etwa hundert Kilometer nordwestlich von Concepción, der zweitgrößten Stadt Chiles im Pazifik in rund 65 Kilometern Tiefe. Die Wucht des Bebens war rund hundert Mal stärker als bei dem Beben von Haiti am 12. Januar. Dass die Schäden dennoch geringer als in der Karibik blieben, liegt vor allem daran, dass das Beben in Haiti deutlich näher an der Erdoberfläche war. Zudem ist das hoch entwickelte Chile deutlich besser auf solche Naturkatastrophen vorbereitet. In Chile sind Beben häufig, die Menschen haben versucht, sich so weit wie möglich darauf einzustellen, vor allem bei Bauvorschriften und Rettungsplänen.
Aber die Gewalt der Verwerfungen eines der schwersten Beben überhaupt war so groß, dass die Zerstörungen vor allem in Concepción dramatisch sind. Kaum eine Straße ist ohne Beschädigung geblieben. Hier stürzten Hochhäuser und Bürotürme wie Kartenhäuser ein, Brücken knickten ab, Autobahnen brachen zusammen und Fahrzeuge wurden wie Spielzeugautos durch die Luft gewirbelt. Straßen wirkten wie mit dem Messer aufgeschlitzt, Fabriken gingen in Flammen auf, nachdem Gasleitungen leck geschlagen waren. „Ich wollte, dass es nur aufhört“, sagte eine Frau verstört dem chilenischen Fernsehen.
In der nahe gelegenen Hafenstadt Talcahuano schwemmte die Wucht einer drei Meter hohen Flutwelle Schiffe bis ins Stadtzentrum. Im zerstörten Hafen lagen Container wie Streichholzschachteln durcheinandergewirbelt. Viele Küstenorte wurden erst von den Erdstößen und dann von einer Flutwelle getroffen. Die chilenische Marine gab zu, dass sie die Gefahr eines Tsunami zunächst unterschätzt hatte.
Auch in der 500 Kilometer entfernten Hauptstadt Santiago fielen vor allem im Zentrum Gebäude zusammen. Der internationale Flughafen wurde so schwer beschädigt, dass er bis auf weiteres geschlossen werden musste. Viele Menschen verbrachten aus Angst vor Nachbeben die Nacht auf der Straße. In allen betroffenen Regionen fiel lange Zeit der Strom aus, und Telefonleitungen brachen zusammen. Vielerorts gab es weder Wasser noch Gas oder Strom.
Vor allem in Concepción kam es im Laufe des Samstags und in der Nacht zu Plünderungen von Supermärkten. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein, um die Menschen daran zu hindern, in Supermärkte einzubrechen. „Wir haben keine Milch, nichts für die Kinder“, jammerte eine weinende Frau und rechtfertigte die Plünderungen. Die Bürgermeisterin von Concepción forderte das Eingreifen des Militärs, um die Ordnung wieder herzustellen in der Stadt.
Es war bereits das zweite Mal in diesem Jahr, dass in Lateinamerika die Erde bebte. Bei dem Beben vor sechs Wochen in Haiti kamen vermutlich 250.000 Menschen ums Leben. Aber die Bilder vor allem aus Concepción wecken Erinnerungen an diejenigen, die aus Haiti tagelang die Weltöffentlichkeit erschütterten. Trümmer so weit das Auge reicht. Entsetzte Blicke von Überlebenden und einfach nur weinende Menschen.
Präsidentin Michelle Bachelet, die bereits am frühen Morgen in die betroffene Region reiste, tröstete in einer Fernsehansprache ihre Landsleute: „Wie bei früheren Katastrophen werden wir auch diese Probe bestehen“. Die Präsidentin bezifferte die Zahl der von dem Beben betroffenen Menschen auf rund zwei Millionen. 1,5 Millionen Wohnungen seien teilweise oder völlig zerstört. Carmen Fernández, Chefin des Notfallbüros beim chilenischen Innneministerium rechnete am späten Samstagabend mit mehr Toten. „Die Zahl steigt minütlich”. Die Regierung rief den Notstand in den fünf betroffenen Regionen des Landes aus und verschob den für Montag geplanten Beginn des Schuljahres auf den 8. März.
Chile liegt am sogenannten „Pazifischen Feuerring“, einem hufeisenförmigen Vulkangürtel am Rande des Pazifiks. Etwa 90 Prozent der Erdbeben weltweit ereignen sich innerhalb des
Feuerrings. Chile wurde 1960 vom stärksten Erdbeben seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1900 erschüttert worden. Das Beben der Stärke 9,5 verwüstete in den 60er Jahren die Stadt Valdivia, 1655 Menschen kamen ums Leben.