Essen. Im neuen Stuttgart-Tatort „Zerrissen“ wird ein 13-Jähriger von seiner Familie für kriminelle Machenschaften eingespannt.

Kurz vor Ladenschluss überfallen drei Vermummte den Juwelier Hager. Der wird von den Tätern verletzt, eine Kundin, die in letzter Sekunde noch ins Geschäft gehuscht ist, kommt ums Leben. Ein Minderjähriger hat draußen Schmiere gestanden. Der Stuttgart-Tatort „Zerrissen“ (heute um 20.15 Uhr in der ARD) von Regisseur Martin Eigler, der mit Sönke Lars Neuwöhner auch das Drehbuch geschrieben hat, ist wieder einmal kein klassischer Whodunnit. Die Tätersuche, bei der man als Zuschauer den Kommissaren Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) ständig weit voraus ist, tritt zurück. Es geht, und das ist viel packender als die reine Krimi-Handlung, um die Seele eines Kindes, es geht um die Frage, ob und wie sich ein Minderjähriger von den Kräften befreien kann, die ihn zum Schuldigen machen und sein weiteres Leben zu prägen drohen.

Die wenigen Aufnahmen einer Überwachungskamera und der Zustand des Geschäfts reichen aus, um in Lannert und Bootz sofort einen Verdacht zu wecken. Das Vorgehen der Täter gleicht exakt einem Überfall vor einem Jahr, und so geraten die verschwägerten Familien Maslov und Ellinger wieder in den Fokus der Ermittlungen. Damals reichten die Beweise nicht. Die erwachsenen Mitglieder der kriminellen Familien, allen voran die Brüder Alan (Nils Hohenhövel) und Mikel Maslov (Oleg Tikhomirov), brachten nicht zu widerlegende Alibis bei. Vielleicht klappt es ja diesmal.

Junge im Dilemma

Bei den Ermittlungen stoßen die Kommissare auf den 13-jährigen Cousin David Ellinger (Louis Guillaume), der der Obhut der Familie entzogen worden ist und in einem Jugendheim lebt. Bootz und Lannert vermuten, dass der strafunmündige Teenager als Wachposten eingesetzt wurde; er könnte der Hebel sein, um den Familienverbund, den man nicht mit einem „Clan“ gleichsetzen sollte, endlich knacken zu können. Doch der Junge steckt in einem Dilemma. Das Bewusstsein, Unrecht zu tun, die Abscheu vor den immer brutaler vorgehenden Cousins, das wachsende Gefühl, manipuliert zu werden, stehen gegen die bedingungslose Loyalität gegenüber der Familie.

Die junge Sozialarbeiterin Annarosa Neuffer (Caroline Cousin), die David betreut, kennt oder erahnt zumindest die Zusammenhänge. Doch sie lehnt die staatlichen Regelungen zum Jugendschutz ab, sieht Parallelen zwischen den fatalen familiären Mechanismen und den polizeilichen Plänen, den Jungen unter Druck zu setzen und zur Aussage zu bewegen. Sie will bewirken, dass David seine eigene Entscheidung trifft, dass er aus eigenem Antrieb das Richtige tut. Das Grundsatzgespräch zwischen ihr und dem immer nachdenklicher werdenden Bootz ist einer der Höhepunkte des Films.

Aro (Caroline Cousin) hat großes Misstrauen gegenüber der Polizei. Sie verbürgt sich dafür, dass David (Louis Guillaume) in der Tatnacht in seinem Zimmer war, und weigert sich, Thorsten Lannert (Richy Müller) mit dem Jungen sprechen zu lassen.
Aro (Caroline Cousin) hat großes Misstrauen gegenüber der Polizei. Sie verbürgt sich dafür, dass David (Louis Guillaume) in der Tatnacht in seinem Zimmer war, und weigert sich, Thorsten Lannert (Richy Müller) mit dem Jungen sprechen zu lassen. © SWR | Benoît Linder

Der Stuttgart-Tatort „Zerrissen“: Einsame Entscheidung

Als die Brutalität der Maslov-Brüder unerträglich wird, als diese mit Hinweis auf die Familie immer neue Forderungen an den Cousin stellen, wendet sich Neuffer dann doch an Bootz. Sie hat erkannt, dass der, im Gegensatz zu Lannert, nicht das „System“ vertritt, sondern nur das Wohl des Jungen im Blick hat. Doch entscheiden kann letztlich nur David selbst.