Essen. Im enorm dicht erzählten sechsten „Ostfriesen“-Krimi kommt die Heldin endlich dem dunklen Geheimnis ihres Vaters auf die Spur.

Die Presse hat ihn damals als Helden gefeiert, den tapferen Polizisten, der sich bei einem Banküberfall gegen die Geiseln austauschen ließ und seine Courage mit dem Leben bezahlte. Seit 15 Jahren sucht die Auricher Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen nach seinem Mörder, denn der oder die Bankräuber konnten damals unerkannt fliehen. Im sechsten „Ostfriesen“-Krimi bekommt sie endlich Gelegenheit, sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen, aber der Preis dafür ist hoch: Der verehrte Vater führte offenbar ein verbrecherisches Doppelleben.

„Ostfriesensühne“ bietet 90 Minuten ohne Atempause

Natürlich basiert die Raffinesse der Handlung nicht zuletzt auf dem Einfallsreichtum von Klaus-Peter Wolf, dem Autor der Buchreihe, aber es gibt gar keinen Roman mit dem Titel „Ostfriesensühne“. Florian Schumacher – er hat auch das Drehbuch zum Auftakt, „Ostfriesenkiller“ (2017) geschrieben – hat sich für sein drittes „Ostfriesen“-Drehbuch bei „Ostfriesensünde“ bedient. Diesen Roman hat er ebenfalls adaptiert (2019), damals aber die Ebene mit Klaasen senior nur gestreift. Regisseur Sebastian Ko hat aus Schumachers Vorlage bei seiner ersten Arbeit für die Reihe einen ungewöhnlich dichten, über knapp 90 Minuten ohne Atempause fesselnden Krimi gemacht; die sechste Episode ist die bislang beste.

„Ostfriesensühne“ funktioniert zwar auch ohne Kenntnis der bisherigen Filme, macht mit ihr aber mehr Spaß, weil sich die verschiedenen Andeutungen aus den früheren Geschichten nun gemeinsam mit den neuen Informationen, die Klaasen (Julia Jentsch) herausfindet, zu einem Bild zusammensetzen. Den Anstoß ergibt ein Vorfall im Wartezimmer einer Arztpraxis: Als eine alte Dame ihre Handtasche auskippt, entdeckt die Hauptkommissarin zu ihrer Verblüffung ein Foto des Vaters mit einer deutlich jüngeren fremden Frau. Ihre Tochter, sagt die Dame; und deren Verlobter, Ludwig Stein.

Die zufällige Begegnung hat ganz erhebliche Folgen: Jeder Mensch, der Klaasen mehr über das Doppelleben ihres Vaters erzählen könnte, wird umgebracht; die angeblich verstorbene Tochter der alten Dame wird unmittelbar vor ihren Augen von einem Scharfschützen ermordet. Die Polizistin selbst wird dagegen verschont, obwohl sich dem Killer genügend Gelegenheiten böten; erst zum Finale zeigt sich, welche Rolle ihr in dem perfiden Spiel zugedacht ist.

Protagonistin verliert den Boden unter den Füßen

Schon die Geschichte ist klasse, weil die Heldin durch die schockierende Erkenntnis komplett den Boden unter den Füßen verliert. Mindestens genauso gut ist allerdings Kos Umsetzung, zumal der auch in kleinen Nebenrollen sehr treffend besetzte Film an den richtigen Stellen aufs Kopfkino setzt. Gruselig gut ist zum Beispiel Michael A. Grimm als zunächst harmlos wirkender Anwalt, der die jungen Frauen „auf Linie“ bringen soll. In einer entsprechenden Szene begnügt sich Ko damit, die Instrumente zu zeigen; ein dumpfer Laut und ein ins Bild fliegender Blutstropfen sind beredt genug. Wie bei allen guten Thrillern hat auch die Musik enormen Anteil daran, dass Hauptfigur und Publikum nicht zur Ruhe kommen: Die elektronischen Kompositionen von Sebastian Fillenberg lassen keinerlei Leerstelle zu, ohne die Bilder zu überladen. Vier von fünf Sternen