Essen. Eine französische Doku setzt sich kritisch mit der Renaissance der Atomkraft als Treibhausgas-freie Energieerzeugung im Klimawandel auseinander

So schnell überholt die Wirklichkeit scheinbar feststehende Wahrheiten. Als in der vergangenen Woche die belgische Regierung beschloss, den lange geplanten Atomausstieg angesichts der aktuellen Energieknappheit zu verschieben, war die französische Doku „Atomkraft, die grüne Zukunft?“ längst fertiggestellt, Belgiens Abschied von seinen Uralt-Meilern Doel und Tihange noch ein Fakt. An der Grundsatzfrage hinter dem Titel des anderthalbstündigen französischen Beitrags für Arte, der am Dienstag, 29. März, um 20.15 Uhr gesendet wird, hat sich jedoch auch durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine nichts geändert: Ist die Treibhausgas-freie Energieerzeugung durch Atomspaltung in Zeiten des Klimawandels unverzichtbar?

„Atomkraft, die grüne Zukunft?“: Kritische Auseinandersetzung mit der französischen Atom-Politik

Frankreich ist mit 56 Kernkraftwerken und seiner gigantischen Wiederaufbereitungsanlage in La Hague (sowie den eigenen Atomwaffen) die weltweit größte Atom-Nation hinter den USA und noch vor China. Die Nutzung der Kernspaltung ist in Deutschlands größtem Nachbarland grundsätzlich wenig umstritten, eine stärkere Anti-Akw-Bewegung gibt es nicht. Da erstaunt es doch auf den ersten Blick, dass die Autoren sich sehr kritisch mit der französischen Atom-Politik auseinandersetzen; aber: Wir leben ja im Arte-Sendegebiet und nicht in Russland.

Auch in Frankreich ist, wie überall auf der Welt, die Endlagerfrage gänzlich ungeklärt. Zehntausende Tonnen teils hoch radioaktiver Abfall werden bereits in La Hague aufwendig gelagert, die Wiederaufbereitung von Brennelementen existiert nur auf dem Papier, die Baukosten neuer Kernkraftwerk-Prototypen explodieren wie in Deutschland bei der „Elphi“ in Hamburg und dem „BER“-Hauptstadtflughafen in Berlin.

Die „Ewigkeitskosten“ der Atomstromerzeugung, unstrittigerweise ei­ne Übergangstechnologie, kann auch in Paris niemand seriös beziffern. Und ewig kann – im Ruhrgebiet weiß man das gut angesichts der zeitlich unbegrenzten Bergbau-Folgekosten – sehr lange sein: Ein Endlager muss über eine Million Jahre einen katastrophalen Austritt von Radioaktivität verhindern.

Doch Atomstrom ist für die Verbraucher günstig in Frankreich, und Präsident Macron hat es in der Europäischen Union durchgesetzt, dass Atomkraft als „nachhaltig“ eingestuft wird, ein bei der Finanzierung der immensen Kosten für den Ausbau wichtiger Punkt. Das alles haben die Dokumacher journalistisch ausgewogen und filmisch zeitgemäß aufbereitet zusammengetragen. Besonders ansehenswert: Die Interviewpassagen, wenn Schweigen der Atom-Lobbyisten die Antwort ist.

Insgesamt bleibt die Grundsatzfrage nach dem grünen Kern der Atomkraft unbeantwortet. Deren Anteil an der weltweiten Stromerzeugung liegt seit 20 Jahren etwa gleich bei zehn Prozent, die Zahl der AKW in Betrieb ebenfalls auf unverändertem Niveau von gut 400. Zum Kernkraft-Thema findet sich in der Arte-Mediathek noch eine Reihe weiterführender Beiträge.

Die deutsche Energiewende kommt bei der französischen Doku grundsätzlich gut weg, der Ausbau von Wind- und Sonnenenergie, der Rückzug aus Kernkraft und Kohle, Erdgas als Übergangstechnologie. Aber wie gesagt: Die Halbwertszeit für den Zerfall feststehender Wahrheiten ist in den vergangenen Wochen radikal gesunken.

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