Berlin. Ferienzeit und Corona: Bei „Markus Lanz“ warnte ein Virologe vor den Folgen des Ausbruchs bei Tönnies. Haben wir ein zweites Ischgl?
Martin Stürmer wirkt ernüchtert. Hatte der Virologe bei seinen letzten Besuchen bei Markus Lanz noch vorsichtig seine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass eine zweite Corona-Welle ausbleiben wird, so haben die letzten Tage dieses Hoffen zum Teil zunichte gemacht.
„Es hat das Potenzial, das deutsche Ischgl zu werden“, stellte der Virologe am Dienstag mit Blick auf die Ereignisse im Kreis Gütersloh fest. 1500 bis 2000 Corona-Fälle, das sei eine Hausnummer, die man erstmal verarbeiten müsse, so Stürmer.
Positiv sei, dass sich die Infektionszahlen in der restlichen Bundesrepublik noch auf einem „guten Niveau“ hielten. Doch er warnte auch: „Es steht und fällt vieles damit, dass die Bürger im gesamten Kreis Gütersloh eine gewisse Freiwilligkeit zeigen, kein großartiges Bewegungsprofil zu haben“.
„Markus Lanz“: Bürgermeister von Rheda-Wiedenbrück spricht von leichtem Lockdown
Eine rechtliche Handhabe, Kontakte und Reisen zu verbieten, gibt es weiterhin nicht. Dass Bewohner von Städten wie Rheda-Wiedenbrück, wo die Fabrik von Tönnies liegt, eine Woche vor den NRW-Sommerferien ihre Freizügigkeit einschränken – Stürmer hofft es zumindest.
Theo Mettenborg (CDU), Bürgermeister der betroffenen Stadt, geht bei den Einschränkungen eher von „Vorsichtsmaßnahmen“ aus, auch weil bisher nicht festgestellt worden sei, dass die Infektionsketten die Bevölkerung von Rheda-Wiedenbrück außerhalb der Tönnies-Belegschaft betreffen würden.
„Ich bezeichne das eher als leichten Lockdown, weil wir nicht ganz zurückfallen auf die Einschränkungen, die wir im März hatten“, sagte der CDU-Politiker, der der Sendung per Video zugeschaltet war. In seinem Kreis seien derzeit 380 Personen direkt ansässig, die aus dem Umfeld der Fleischfabrik stammten und positiv auf das Corona-Virus getestet wurden. Diese befänden sich nun in Quarantäne.
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Der Virologe in der Runde hatte Zweifel daran, dass das Infektionsgeschehen damit eingedämmt sei: „Es ist ein Ausbruch, der sehr komplex und groß ist. Die fast 2000 Fälle nachzuvollziehen, ist Sisyphusarbeit“, meinte Martin Stürmer. Es werde jetzt nur reagiert – dabei wäre das Agieren, die Prävention einer Verbreitung des Virus’ vorab wichtig gewesen.
Optimale Bedingungen für Coronavirus in Tönnies-Fabrik
„Wir kennen das Virus zwar noch nicht ewig, aber ein paar Monate. Wir hatten Corona-Ausbrüche in anderen Fleischereibetrieben, wo letztendlich nicht solche Zahlen zusammengekommen sind“, erläuterte der Experte. Am Dienstag gab es einen Ausbruch in einem Schlachthof von Wiesenhof.
Am Fall von Tönnies könne man so sehen, dass das Nicht-Einhalten von Hygienebestimmungen zum Ausarten der Ansteckungen führe. „Geschlossener Raum, Enge, keine Maske – optimale Bedingungen für das Virus“, resümiert Stürmer.
Dass es bei einem Unternehmen wie Tönnies zu einem Corona-Ausbruch kommt, überrascht auch Anette Dowideit, Leiterin des Investigativteams der „Welt“, nicht. Neben den Bedingungen am Arbeitsort selbst führe der Profitdruck dazu, dass die Mitarbeiter oft zusammengepfercht in Bruchbuden untergebracht werden.
Das System aus Werkverträgen und Subunternehmen, welches um die Fleischfabriken entstanden sei, nennt sie eine „Parallelwelt“. Viele Politiker seien sich der Missstände in der Fleischproduktion bewusst, meinte Dowideit.
„Markus Lanz“ zum Fall Tönnies: Kritik an Agrarpolitikern der Union
Anton Hofreiter, Bundestagsabgeordneter der Grünen, nickte zustimmend. „Diese Zustände herrschen seit Jahren in dem ganzen Bereich“, sagte der Politiker zu Lanz. Warum sich daran nichts ändere? „Die Bundesregierung, beziehungsweise der parlamentarische Arm dieser Zustände, nämlich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Agrarausschuss, leugnet das und weigert sich, daran etwas zu ändern.“
Auch Anette Dowideit kritisierte die Verflechtungen der Unions-Abgeordneten mit der Landwirtschaft: „Große Teil der CSU und der CDU haben in den letzten Jahren stark verhindert, dass sich etwas ändert. Da gibt es einige, die mit der industriellen Landwirtschaft ganz eng verwurzelt sind“, so die Journalistin.
Und Hofreiter ergänzte: „Sie müssen nur mal in den Agrarausschuss reinschauen und gucken, welche Rolle die einzelnen Personen in der Agrarlobby gespielt haben, dann sehen Sie die engen Verflechtungen.“
Doch es gebe auch positive Entwicklungen, wie Dowideit anmerkte: „Die Politik hat sich zumindest in Hinsicht auf die Werkverträge bewegt. Es gab das Eckpunkte-Papier von Arbeitsminister Hubertus Heil, nach dem die Werkverträge schon ab nächstem Jahr verboten sein sollen.“ Das sei ein drastischer Schritt – allerdings bleibt abzuwarten, wie der konkrete Gesetzentwurf im Bundestag abschneidet.
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