Essen. Der Extremismus des Elends: Der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler wirft Privatsendern vor, gefährliche Zerrbilder von Armen zu produzieren.
Private Fernsehsender führen Menschen in ihrer Armut und mit ihren sozialen Schwierigkeiten zu Unterhaltungszwecken vor. Damit schüren sie Vorurteile und erzeugen gefährliche Zerrbilder der Wirklichkeit. Zu diesem Ergebnis kommt der Bielefelder Medienwissenschaftler Bernd Gäbler in seiner aktuellen Studie „Armutszeugnis“. Er hat mehr als hundert Stunden RTL II geschaut und unter anderem Sendungen wie „Hartz und herzlich“ und „Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern?“ seziert.
„Besonders krasse Charaktere vor der Kamera“
„Im Tarnkleid des Mitgefühls“, so Gäbler, „pflegt der Sender einen Extremismus des Elends und lockt
besonders krasse Charaktere vor die Kamera.“ Die Kamera werde als Machtinstrument benutzt, um Menschen bloßzustellen, „die nicht erfahren genug sind, um sich dagegen zur Wehr zu setzen“. Sie würden ausgestellt, weil sie nicht in der Lage seien, die Folgen ihres öffentlichen Auftritts zu überblicken.
Ohne jede Scham schrecke man beim Sender nicht zurück vor stigmatisierenden Kommentaren. „Ständig werden abwertende Begriffe wie arbeitsscheu, faul, soziale Hängematte oder Nichtstun auf Kosten der Gemeinschaft benutzt“, kritisiert Gäbler in der Studie.
Die Sendung „Ein Koffer voller Chancen“ nenne sich ein „Sozialexperiment“, sei aber nichts anderes als „ein zynischer Amüsierbetrieb auf Kosten bisheriger Hartz-IV-Empfänger“.
ARD und ZDF sind „wenig nachhaltig“ bei Berichten über Armut
In den öffentlich-rechtlichen Sendern werde zwar qualitativ besser, aber zu stark saisonal und wenig nachhaltig über Armut berichtet, moniert Gäbler. Insbesondere in fiktionalen Produktionen werde zu oft ausschließlich aus der Perspektive einer wohlhabenden Mittelschicht auf die Gesellschaft geblickt.
„Eine kritische Sicht auf die Armutsberichterstattung im Fernsehen begrüße ich ausdrücklich. Menschen mit Armutserfahrung brauchen Empathie und Unterstützung. Sie dürfen nicht bloßgestellt und diffamiert werden, wie dies in einigen Sendungen des Privatfernsehens geschieht“, erklärt der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands Dr. Ulrich Schneider.
Gäbler und die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung, in deren Auftrag er die Untersuchung gemacht hat, rufen Journalisten- und Sozialverbände auf, gemeinsam mit den Betroffenen einen „Leitfaden zur respektvollen Armutsberichterstattung“ zu erstellen, wie ihn die nationale Armutskonferenz in Österreich schon erarbeitet hat. Der „untere Rand“, so das Fazit von Autor und Stiftung, „gehört in die Mitte unserer Wahrnehmung“.
Journalistenverband: Boulevard muss Diskriminierung vermeiden
Frank Überall, Bundesvorsitzender des Deutschen Journalistenverbands, warnt vor einer Generalkritik am
privaten Fernsehangebot. „Wirtschaftlich benachteiligte Menschen dürfen nicht zusätzlich durch das Privatfernsehen bestraft werden“, räumt er ein und fügt hinzu: „Boulevard kann und muss Diskriminierung vermeiden. Das muss ohne Wenn und Aber für alle Journalistinnen und Journalisten gelten.“
Boulevardsendungen hätten aber ihre Existenzberechtigung im Medienangebot der Sender. Es gebe viele Formate im Privatfernsehen, so Überall, die ihre Zielgruppen mit adäquaten Informations- und Unterhaltungselementen bedienten und die Fernsehlandschaft insgesamt bereicherten.