Essen. Der Kölner „Tatort“ bringt die Ermittler Ballauf und Schenk an ihre Grenzen – auch weil einer von ihnen ins Visier der Kollegen gerät.
„Diese Welt ist nicht für uns gemacht“, sinniert Kommissar Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) vor sich hin. „Reinpassen muss man“, murmelt sein Partner Freddy Schenk (Dietmar Bär), der sich nach den jüngsten Ereignissen genauso verloren und ratlos fühlt. Wenn der Kölner „Tatort“ endet, ist eines sicher: Schenks Verhältnis zu manchen Kollegen, die sich im Nebenraum betont ausgelassen zu seinem Geburtstag eingefunden haben, wird nie mehr so unbelastet sein wie vorher.
Der Ausnahme-Krimi „Kein Mitleid, keine Gnade“ von Johannes Rotter (Buch) und Felix Herzogenrath (Regie) erzählt eine bedrückende Tragödie von geradezu archaischer Dimension. In der Nähe einer verlassenen Villa wird die Leiche eines erschlagenen Jugendlichen entdeckt. Der Tote ist splitternackt. Ein Sexualdelikt?
Spuren am Fundort ermöglichen eine rasche Identifizierung. Der 17-jährige Jan Sattler stand kurz vor dem Abitur, hätte heute eine wichtige Biologie-Klausurarbeit schreiben müssen. Als Ballauf und Schenk seine Mitschüler befragen und um Mithilfe bei der Aufklärung bitten, stoßen sie auf eine Mauer des Schweigens.
„Tatort“ aus Köln: Ermittler Schenk gerät selbst in den Fokus der Kollegen
Niemand will Jan näher gekannt, niemand will mehr als notwendig mit ihm zu tun gehabt haben. Doch als wenig später ein Kondolenzfoto am Schwarzen Brett des Gymnasiums mit obszönen Kritzeleien verschandelt wird, ist klar: Jan, der wohl schwul war, wurde gemobbt.
Was das bedeuten kann, erfährt Schenk kurz drauf am eigenen Leib. Eine befragte Mitschülerin bezichtigt ihn grundlos eines sexuellen Übergriffes, ein diffamierendes Handy-Video kursiert in den sogenannten sozialen Medien und setzt eine Eigendynamik in Gang. Die Dienstaufsicht nimmt Ermittlungen auf, Schenks Familie wird belästigt, Kollegen („wo Rauch ist, ist auch Feuer“) tuscheln und rücken ab. Nur Ballauf und der pragmatisch denkende Jütte (Roland Riebeling) stehen jederzeit zu ihm.
Der Mord an Jan ist im Schutz der Dunkelheit verübt worden. Alles andere – Cyber-Mobbing, sogenannte Hate-Speech, Psycho-Terror oder physische Gewalt – geschah, geschieht unter den Augen und zugleich unter dem Schutz der Öffentlichkeit.
Dieser „Tatort“ funktioniert auch ohne Starbesetzung
Wie ist es möglich, dass, Stichwort Homophobie, in einer eigentlich aufgeklärten, sich liberal wähnenden Gesellschaft alte Vorurteile und in der Folge alte Formen der Gewalt neue Gestalt annehmen konnten? Zu den großen Qualitäten des Films, der sein Hauptthema nie dem Krimi-Strang unterordnet, gehört, dass er keine wohlfeilen Antworten und Heilmittel anbietet.
Mechanismen werden nicht erklärt, Verantwortliche nicht benannt. Weil jede noch so kleine Schuldzuweisungen letztlich dazu dienen könnte, sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen.
So großartig Buch und Regie bei diesem Tatort zusammengearbeitet haben: Ein Sonderdank gebührt jemandem, der normalerweise nie erwähnt wird – dem Besetzungsbüro. Die vier jungen, bislang unbekannten Darsteller, die als Mitschüler Jans die Tragödie ganz entscheidend tragen, sind schlicht und einfach eine Entdeckung.
„Tatort – Kein Mitleid, keine Gnade“, Das Erste, 12. Januar 2020, 20.15 Uhr
Zuletzt sorgte die ARD-Krimireihe mit dem Improvisations-„Tatort“ „Das Team“ für Aufsehen, darin spielten zahlreiche Stars mit. Die Reaktion der Zuschauer reichte von harter Kritik bis zum Lob.