Essen. Der Psychologie-Professor Helmut Lukesch sieht die Auswirkungen von Castingshows auf ihre jugendlichen Teilnehmer durchaus kritisch. Seiner Meinung nach werden sowohl Sieger als auch Verlierer von "DSDS" und Co schnell zu Castingopfern.

Helmut Lukesch ist Professor am Institut für experimentelle Psychologie der Universität Regensburg. Im Interview mit DerWesten macht er sich Gedanken über die Welle der Castingshows, die seit Jahren über Deutschlands Jugendliche hinwegschwappt - und viele verschlingt.

Nach der achten Staffel von „Popstars“, der sechsten Staffel von DSDS und der vierten Staffel von „Germany´s Next Topmodel“ - welche Motivation treibt junge Menschen noch immer an, bei Castingshows mitzuwirken?

Helmut Lukesch: Es gibt wohl ganz unterschiedliche Gründe, sich für Castingshows zu bewerben. Zum einen nehmen heute viele Jugendliche ganz selbstverständlich an Aussehensrankings im Internet teil – warum es nicht auch im Fernsehen versuchen? Das permanente Gecastet-Werden gehört zur Identität vieler Jugendlicher und verleiht ihnen Ansehen bei ihren Freunden. So eine Bewerbung kann aber auch der etwas verzweifelte Versuch sein, aus einer misslichen Situation auszubrechen und - was eigentlich äußerst unwahrscheinlich ist - Erfolg zu haben und berühmt zu werden.

Sie sagen es: Der Sieg bei einer Castingshow ist ziemlich unwahrscheinlich. Was bedeutet es für die Jugendlichen, wenn sie scheitern?

Lukesch: Das „Pokern“ auf einen Sieg, um in dieser Gesellschaft erfolgreich zu sein, ist im Grunde eine misserfolgsorientierte Herangehensweise, da das Scheitern vorprogrammiert ist. Das wiederum ist ziemlich problematisch, da ein Platzen des Traumes erhebliche Selbstwertprobleme bei den Bewerbern nach sich ziehen kann.

Gesetz den Fall, sie haben dann tatsächlich gewonnen, bedeutet das ja noch lange nicht, dass eine große Karriere für sie beginnt. Warum schreckt die Bewerber der mangelnde Erfolg der Sieger aus vergangenen Staffeln nicht ab?

Lukesch: Ich würde das als eine typische „Verstärkerfalle“ interpretieren: Man ist quasi mit Tunnelblick auf den kurzfristig erreichbaren Erfolg fixiert und denkt nicht an einen späteren Misserfolg. Und wenn sie sehen, dass andere scheitern, gibt es auch das Phänomen der „magical immunity“: Fehler haben die anderen gemacht, mir passiert sowas nicht. Das stimmt natürlich nicht, aber es ist einer der psychischen Mechanismen.

Bei „Deutschland sucht den Superstar“ wurde ein Kandidat nach seinem Auftritt nicht nur von Dieter Bohlen fertiggemacht, sondern auch von Zuschauern der Sendung im Nachhinein belästigt. Warum fürchten die Bewerber die Bloßstellung in den Medien nicht?

Lukesch: Die einen nehmen vielleicht die ganze Sache nicht so ernst. Es ist für sie einfach nur ein Spaß, einmal dabei gewesen zu sein. Dabei handelt es sich allerdings oft nur um eine Fassade, mit der die Jugendlichen ihr Handeln vor sich selbst rechtfertigen und sich die Angst vor dem Scheitern nehmen. So eine Fassade kann natürlich schnell bröckeln. Die Jugendlichen verlieren dann an Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen.

Was bedeutet das für die Psyche eines jungen Menschen?

Lukesch: Der Jugendliche muss den erlittenen Selbstwertverlust mit viel „Seelenakrobatik“ wieder ausbügeln, sich also selbst wieder ins Gleichgewicht bringen.

Was passiert mit der Psyche eines Jugendlichen im Laufe einer Castingshow?

Lukesch: Besonders ausschlaggebend für die Psyche des Einzelnen sind die Effekte und Mechanismen, die sich innerhalb der Kandidatengruppen herausbilden. Hier bekommen Themen eine Wichtigkeit, die von außen betrachtet völlig irreal sind. Auch die vermeintlichen „Freundschaften“ und Sympathien zu den Konkurrenten sind sehr wichtig und beeinflussen natürlich den Erfolg des Bewerbers. Bei diesen Dingen gibt es eine Unmenge emotionaler Auf und Abs, die zusätzlich noch von den Produzenten angeheizt und in Szene gesetzt werden.

Und der glückliche Sieger - wie verändert es ihn, zum "Star" gemacht zu werden?

Lukesch: Es wäre zu hoffen, dass für den so zustandegekommenen „Star“ ein effektives Management vorhanden ist, um das Beste aus seinem Erfolg zu machen. Dazu gehört auch, dass man die „Stars“ vor bestimmten Problemen schützt, zum Beispiel vor den Überforderungen, immer wieder in der Öffentlichkeit zu stehen. Das wird aber nicht unbedingt der Fall sein, denn solche „Stars“ werden bis zum letzten ausgepresst und wenn sie nicht mehr finanziellen Erfolg versprechen auch gnadenlos allein gelassen.

Wie könnten sich die jungen Castingshow-Sieger davor schützen?

Lukesch: Zu wünschen wäre jedem dieser „Stars“, dass er nicht abhebt, sondern einen solchen Erfolg realistisch in seine Lebensplanung einbaut. Dazu braucht es aber Intelligenz und Durchblick in Bezug auf das Funktionieren des Mediensystems, vielleicht auch soziale Unterstützung. Allerdings werden soziale Beziehungen im Zuge der Castingshows abgebaut. Denn um jemanden optimal manipulieren zu können, ist es sinnvoll, ihn von seinen früheren Beziehungen abzuschneiden.

Und was bedeutet es für ihn, wenn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nach der Show nachlässt?

Lukesch: Unproblematisch ist das dann, wenn der neue „Star“ sich auch nach der Show noch eine Karriere in seinem Bereich aufbauen kann. Das setzt aber Können und eine darauf abgestimmte Marktnische voraus. So etwas kann nicht immer funktionieren, denn es werden immer wieder neue „Stars“ gepuscht, und für die früheren ist das Ende absehbar. Das bedeutet für viele, dass sie sich wieder in ein normales Leben jenseits von Glanz und Glamour einfügen müssen. Wenn dies gelingt, dann kann die Erinnerung an die Zeit als „Star“ eine Bereicherung für das Leben sein. Leider gibt es aber auch immer wieder Karrieren nach unten. Das heißt, um noch eine gewisse Medienpräsenz zu erzielen, ist man sich für keine Dummheit zu schade und tingelt von einer merkwürdigen Show zur nächsten, um dann einmal als nur mehr bedauernswerte Gestalt aus der Öffentlichkeit zu verschwinden.

Sehen Sie als Professor der Psychologie solche Entwicklungen kritisch?

Lukesch: Durchaus. Man muss nicht so weit gehen und eine vorherprogrammierte Entwicklung in eine psychische Krankheit behaupten, einzelne Beispiele lassen sich aber durchaus finden.

Wie schafft ein Castingopfer es danach wieder, sich in seinen Alltag zu integrieren?

Lukesch: Der Jugendliche muss eine realistische Lebensperspektive, die auf seinen eigenen Fähigkeiten aufbaut, entwickeln. Hier wirken sich dann schulische Karriereknicks sehr negativ aus, denn es müssen unter Umständen Schulabschlüsse erst nachgeholt werden, um dann in eine Berufsausbildung einsteigen zu können. Ein soziales Umfeld ist dabei sehr wichtig. So ein Umfeld bietet die notwendige Unterstützung, um wieder in die Normalität jenseits von Glanz und Glamour zu finden.