Düsseldorf. Junge Kandidaten, sympathische Jury, wichtiges Thema: „Ich kann Kanzler“ bringt die richtigen Grundvoraussetzungen mit und ist doch die unrealistischste aller Castingsendungen. Verglichen damit ist Heidi Klums "Germany's next Topmodel" hochseriöses Berufsausbildungs-Fernsehen.

Es ist schon komisch: Monatelang hieß es, Heidi Klums Topmodel-Sendung vermittle ein falsches Bild vom Mannequin-Beruf, basiere auf unsinnigen Prüfungen und bediene sich Hollywood-Methoden. Das ist zum Großteil wahr. Im Vergleich zu „Ich kann Kanzler“ ist Klums Sendung allerdings hochseriöse Berufsausbildung.

„Germany’s Next Topmodel“ verfolgt die Kandidatinnen immerhin über Monate hinweg, lässt sie Situationen simulieren und Fähigkeiten trainieren, die zumindest ansatzweise mit dem Beruf zu tun haben. Es ist ein halbernstes Casting im Seifenopern-Gewand. Beim neuen ZDF-Produkt verhält es sich genau umgekehrt. „Ich kann Kanzler“ ist eine realitätsferne Sendung mit Dokumentationsanspruch. Ganze zwei Minuten haben Günther Jauch, Anke Engelke und Henning Scherf, um das Kanzlerpotenzial ihrer Schützlinge abzuklopfen. In der Zeit könnte man gerade überprüfen, ob Michael Schuhmacher die Lenkradsperre aufkriegt.

Noch absurder wird es beim Programm der Kandidaten. 45 Sekunden haben diese, um ihre „Ideen für Deutschland“ vorzustellen. Dass da kaum mehr als politische Gemeinplätze herauskommen, kann man sich vorstellen. Und so ist es dann auch: Eine Kandidatin möchte mehr Partizipation. Was sie genau meint – keine Nachfrage. Ein Mann verkauft die Vereinfachung des Steuerrechts als Vision. Alle wollen mehr Geld für Nachwuchs und Bildung (so, als ob es eine Partei gäbe, die weniger Kindergeld und den Abriss von Universitäten forderte). Eine Frau schlägt vor, dass Politiker Patenschaften mit Schulklassen eingehen. Warum, wird nicht klar. Es ist seltsamer Mix aus Konsensmeinungen und abseitigen Ideen.

Vergreiste Jugendliche

Die Hälfte der Kandidaten in dieser Sendung scheint außerdem am Methusalem-Syndrom zu leiden. Ob es an den Anzügen oder der Rhetorik liegt – selten sah man so viele vergreiste Jugendliche. Vorsitzender im Philipp-Mißfelder-Gedächtniskreis ist Jacob, ein 18jähriger Abiturient aus Brandenburg, der die politische Phraseologie („Ich muss Ihnen ehrlich sagen ...“ / “Ich hoffe, ich konnte meine Vision überzeugend vermitteln.“) schon derart verinnerlicht hat, dass man lieber nicht darüber nachdenkt, wie er mit 40 reden wird. „Glaubst Du, dass in Deiner Stufe viele mit Dir in den Urlaub fahren würden?“, fragt Engelke nicht ohne Grund. „Ich muss nicht mit dem Kanzler in den Urlaub fahren.“ kontert Jauch. Das stimmt. Man muss aber auch nicht jeden Aufzeige-Schnipper zum Kanzler machen.

Zugegeben: Nicht alle Kandidaten wirken so stromlinienförmig. Die vierfache Mutter Antje Krug zum Beispiel überrascht mit der Aussage, sie sei nicht grundsätzlich für eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze, obwohl sie als Arbeitslose selbst davon profitieren würde. Vermutlich könnte man aus dem einen oder anderen Bewerber auch mehr rausholen, wenn der Zeitrahmen nicht so eng wäre. Bleibt nur die Hoffung, dass sich das im heutigen Live-Finale ändert. Wenn nicht, dann war „Ich kann Kanzler“ wenig mehr als ein im Ansatz versandetes Edelcasting.

Mehr zum Thema: