Bayreuth.. Bravo-Rufer halten beim Schlussapplaus stehend gegen ein Pfeif- und Buhkonzert. Die Bilanz zum Bayreuther “Ring der Nibelungen“ fällt unterm Strich dennoch positiv aus. Denn es gibt in dieser Inszenierung viel Erkenntnismehrwert.

Wagners „Ring des Nibelungen“ ist der Angstgegner vieler Regisseure. Vier Opern und rund 16 Nettostunden Musik legen Erwartungen an, die heute praktisch unerfüllbar sind. Es ist ja kein Zufall dass die Theater immer häufiger vier verschiedene Regisseure mit den vier „Ring“-Werken betrauen. In Bayreuth vervielfacht sich dieser Druck. Denn der „Ring“ wird hier hintereinander gespielt, und die Deuter sollen bitte möglichst einen roten Faden vom „Rheingold“ bis zur „Götterdämmerung“ auslegen.

Unter diesen Voraussetzungen muss man die Bilanz von Frank Castorfs Interpretation der Tetralogie in der zweiten Spielzeit ziehen. Wenig überraschend gab es am Schluss der „Götterdämmerung“ erneut ein Pfeif- und Buhkonzert für die Regie. Aber die große Gruppe der Bravo-Rufer hielt diesmal mit Beifall im Stehen dagegen. Und die Prophezeiung darf gewagt werden, dass der Castorf-„Ring“ in einigen Jahren Kultstatus erlangt.

Außergewöhnliche Walküre

Eine Inszenierung ist dann gut, wenn sie einen Erkenntnismehrwert erzeugt. Das gelingt Castorf. Er schärft den Blick auf die Figuren und ihre Motivation. Seine Götter sind auch nur Menschen. Wotan rückt Erda zum Beispiel am Ende des „Rheingoldes“ sofort auf den Pelz. So wird verständlich, was inzwischen passiert ist, wenn Fricka am Anfang der „Walküre“ auf dem Bildschirm frustriert Sahnetorten in sich hineinstopft.

„Rheingold“ und „Walküre“ sind die überzeugendsten „Ring“-Stationen. „Das „Rheingold“ in dem Motel an der amerikanischen Route 66, in dem Wotan die filmreifen Götter wie ein Pate dirigiert, bringt Farbe und Humor ins Spiel. Die „Walküre“ legt Castorf richtig opernhaft in der archaischen Holzkirchen-Ölförderturm-Bühne an. „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ sind dagegen eher als Theater konzipiert, denn als Oper. Das macht sie kurzweilig. Der zweistündige erste Akt der „Götterdämmerung“, der sich endlos hinziehen kann, vergeht hier wie im Fluge, weil in dem Hinterhofmilieu mit seiner aus der Zeit gefallenen Dönerbude so viel passiert.

Ein „Öl“-Ring sollte es werden, hatte Castorf angekündigt. Doch das Motiv ist außer in der aserbaidschanischen „Walküre“ nur eine lockere Assoziation. Je schneller man das Öl vergisst, desto besser gelingt der Zugriff auf Castorfs Arbeit. Denn er inszeniert eine Geschichte von Macht und Gier an verschiedenen geographischen, historischen und sozialen Schauplätzen. Und die kleine Gier großstädtischer Randgruppen wie der Gibichungen ist genauso tödlich wie die große Gier der Götter.

Viel eher als das Öl bildet das Rechteck des omnipräsenten Videoschirms den roten Faden. Die Leinwand doppelt die Sänger, sie lässt hinter die Kulissen blicken, sie zeigt völlig andere Dinge, als gerade auf der Bühne passieren. Das ist eine zusätzliche Interpretationsebene, aber auch ein Medium, das Publikum kritisch vorzuführen. Denn in Bayreuth, der Pilgerstätte der Hochkultur mit ihren kundigen Musikfreunden, ausgerechnet hier passiert: was? Sobald der Monitor aufleuchtet, gelingt es dem Auge nicht mehr, sich auf die Hauptsache, die Sänger, zu fokussieren. Der Wagnerianer wird zum Sklaven des Bildschirms.

Der ganze „Ring“ lebt von den phantastischen Bühnenarchitekturen Aleksandar Denics, die Bilder von großer atmosphärischer Dichte generieren. Siegfrieds Wald wird so zum Großstadtdschungel des Berliner Alexanderplatzes, und die Hinterhof-Dönerbude ist nur einen Schritt weit von der New Yorker Börse entfernt: Gier hält das „Ring“-Karussell in Bewegung.

Wunderbare Besetzung

Die Produktion ist in den Hauptrollen wunderbar besetzt: Bariton Wolfgang Koch als kaputter Wotan, dem doch so warme Töne gelingen; Burkhard Ulrich als Mime zwischen Würde und Bosheit, Bassbariton Oleg Bryjak als gedemütigter Alberich, Attila Jun als gepeinigt-brutaler Hagen mit tiefschwarz glosendem Bass; Johan Botha als Siegmund, dessen Wälse-Rufe das Dach des Festspielhauses zum Beben bringen; Lance Ryan, der seinen Siegfried als lüsternen Soziopathen spielt und ihn mit großem Tenorvolumen singt. Und dann ist da Catherine Foster als Brünnhilde, die einzige Figur, die Castorf nicht demaskiert, weil sie fähig zum selbstlosen Mitleid ist. Catherine Foster singt die Partie mit nachtdunkel-glühendem Sopran, der auch voll aufgedreht nie ins Geschrei abrutscht.

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Vor allem ist es aber der „Ring“ von Kirill Petrenko. Der Maestro macht Wagners Partitur mit unerhörtem Farbenreichtum lebendig; dabei geht es ihm keineswegs um Kulinarik. Stattdessen werden die Motive der Figuren und die Naturklang-Themen psychologisiert; sie machen hörbar, was in den Protagonisten vorgeht, sie erzählen erotisch aufgeladen von Träumen und Begierden, sie künden aggressiv von Habsucht, Gewalt und Scheitern, und sie überstrahlen alle vier Abende immer wieder mit dem irisierenden Glanz von Wagners Sehnsucht.

Wie ein Leitmotiv bevölkert ein silberner Wohnwagen die „Ring“-Spielfelder. Das ist vielleicht der poetischste Einfall der ganzen Inszenierung. Denn im Kontrast zu den himmelhohen Bühnenarchitekturen steht der Trailer für das Streben nach dem kleinen Glück im Schlagschatten der Machtkämpfe der Großen.