Essen. . Die Autorin Juli Zeh hat mit „Mutti“ ein Theaterstück über Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben, bei den Ruhrfestspielen kommt es zur Uraufführung. Ein Gespräch über Juli Zehs offenen Brief nach der Späh-Affäre, Merkels Schweigen – und die Fußball-WM.
Im Theaterstück „Mutti“, das bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen zur Uraufführung kommt, empört das Schweigen der Kanzlerin die Regierungskollegen. Im echten Leben die Autorin Juli Zeh selbst, die vor einem Jahr in einem offenen Brief eine Reaktion auf den NSA-Skandal einforderte – und diesen Aufruf jetzt in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erneuerte. Britta Heidemann sprach mit der Autorin.
Frau Zeh, macht Sie Frau Merkels Schweigen sauer?
Politisch macht es mich sauer – persönlich nicht so sehr. Merkels Strategie der Nichtbeschäftigung ist angesichts der Problemlage völlig inakzeptabel, dagegen kämpfe ich an.
Sie fordern eine digitale Agenda – was müsste diese beinhalten?
Wir müssen festlegen, wie wir politisch mit der technischen Entwicklung Schritt halten kann. Dazu müssen wir erstmal ein Gesellschaftsbild entwickeln: Wie wollen wir leben in den nächsten 50 Jahren? Der nächste Meilenstein wird sicherlich Google Glass sein. Beim aktuellen Stand des politischen Diskurses wird uns auch diese Technik einfach überrollen. Dabei müssten wir uns doch fragen, ob wir ein solches Produkt wirklich wollen. In anderen Bereichen, etwa bei der Entwicklung von Waffen oder auch bei der Gentechnik, ist es normal, dass wir Technologien regulieren.
Die meisten Menschen denken vermutlich, dass man das Internet nicht regulieren kann.
Man tut immer so, als gäbe es da einen virtuellen Raum, der anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, weil im Internet die Polizei nicht mit Tatütata herumfahren kann. Völlig naive, kindliche Vorstellungen. Das Netz ist ein Kommunikationsraum, der benutzt wird von Akteuren – und die befinden sich außerhalb des Netzes. Wie Firmen, Geheimdienste, Sicherheitsbehörden. Wir regulieren ja auch andere Wirtschaftstätigkeiten im europäischen Raum. Eine amerikanische Firma darf bei uns keine Lebensmittel verkaufen, die unseren Vorstellungen nicht passen – egal, wo sie hergestellt werden.
Der Unterschied ist vielleicht, dass man auf Lebensmittel angewiesen ist, sich aber im Netz aussuchen kann, ob man bei Facebook sein will oder Emails schreibt.
Das würde ich eben anders sehen. Man suggeriert, wir könnten auf digitale Kommunikation verzichten. Das stimmt aber einfach nicht. Das ist so ähnlich, als wenn man vor 150 Jahren während der Industrialisierung einem Bergarbeiter gesagt hätte: „Na, wenn dir die Arbeitsbedingungen nicht passen, dann arbeite eben nicht im Kohlebergwerk.“ – In welchem Job kann man heute noch sagen, Handy und Email lehne ich ab?
Sie haben sich jetzt mit Angela Merkel einer Figur gewidmet, die sehr wenig greifbar ist – was hat Sie auf die Idee gebracht?
Ich finde gerade diese Nichtgreifbarkeit phänomenal, nicht nur, weil Rätsel immer neugierig machen. Wenn wir über viele Jahre mit so wahnsinniger Zustimmung eine Politikerin tragen, von der wir keine Ahnung haben, was sie denkt, dann ist das sprechend für unser Politikverständnis. Ich habe angefangen, Biografien über sie zu lesen – ich muss sagen, das hilft! (lacht)
Was haben Sie herausgefunden?
Mir war nicht klar, dass Frau Merkel es tatsächlich nicht nötig findet, den Bürger darüber zu informieren, was Politik tut. Sie meint, man muss nur die Ergebnisse verkünden, und der Weg dorthin ist Sache der Experten. Diese Ableitung ist aber grundfalsch! An dieser Stelle versteht Frau Merkel nicht, was Demokratie bedeutet. Demokratie braucht immer das Angebot von Transparenz, ganz egal, ob es genutzt wird. Daraus erklärt sich vieles in ihrem Verhalten: dass sie redet wie ein Kind, obwohl sie hochintelligent ist. Diese beschwichtigenden Banalsätze: „Die Menschen im Land müssen für sich sorgen können...“ Als ob sie selbst kein Mensch wäre.
Aber diese Desinformation, oder auch das Schielen nach den Umfragewerten, die Intrigen, die Sie im Stück beschreiben – gab es all das nicht immer schon?
Vor 30, 40 Jahren, da gab es noch Ideenkämpfe, da ging es nicht immer nur um Lösungsansätze. Frau Merkel verkörpert einen Typus von Politiker, der keine Visionen mehr hat. Man kann diese Frau keiner Partei zuordnen. Sie ist weder christlich noch konservativ. Sie könnte auch in der SPD sein oder, seit Fukushima, bei den Grünen.
Haben Sie Frau Merkel eigentlich je persönlich getroffen?
Leider nein. Ich gehe aber davon aus, dass das irgendwann passieren wird. Witzigerweise bin ich sicher, dass wir uns gut verstehen würden und ich sie sehr mögen würde. Im privaten Bereich mag ich Menschen wie sie. Leider bin ich trotzdem der Meinung, dass sie dem politischen Klima im Land sehr schadet. Aber am Kneipentisch würde das ja keine Rolle spielen. Hinter den Kulissen ist Frau Merkel angeblich der reinste Scherzkeks. Wir würden sicher einen unterhaltsamen Abend verbringen.
Mit einer neuen Griechenlandkrise und der Fußball-WM in Brasilien haben Sie viel Gegenwart im Stück – haben Sie keine Sorge, dass die Gegenwart Sie bald ein- und überholt?
Die Aktualität ist gar nicht das Kernanliegen, es geht eher darum, zu zeigen, was für Anforderungen an Politiker herangetragen werden und ob sie in der Lage sind, die zu erfüllen. Man hätte auch die Ukraine-Krise nehmen können, aber die war eben vor einem halben Jahr noch nicht aktuell. Aber es hat mir natürlich Spaß gemacht, dass in den ersten Monaten der Aufführung von „Mutti“ die Fußballweltmeisterschaft parallel laufen wird und man diese Dreistigkeit besitzt, zu behaupten, man wüsste, was passiert.
Und wer gewinnt ...
Da ist unsere Voraussage natürlich totaler Quatsch. Wenn einer nicht gewinnt, ist das Deutschland.
Wie bitte?
Wahrscheinlich darf man das gar nicht sagen, oder? (lacht) Wer weiß, vielleicht behält das Stück ja recht, und Mutti wird Weltmeister.
Info: Das Kabinett-Stückchen bei den Ruhrfestspielen
Gruppentherapie mit Dame: Angela, Horst, Sigmar und Ulla proben die „Systemaufstellung“, derweil draußen nicht nur die nächste Eurokrise droht: Weil auf der Baustelle in Katar ein Arbeiteraufstand blutig niedergeschlagen wurde, wird das WM-Endspiel in Brasilien zur „Lage“. Für Angela aber gibt es nur: Sieg!
Die Autorinnen Juli Zeh und Charlotte Roos haben mit „Mutti“ der Politik neue Spannungsmomente eröffnet. Wie realistisch das Kabinett-Stück, das die Ruhrfestspiele und das Nationaltheater Weimar produziert haben, ist am 22., 23. und 24. Mai. in der Halle König Ludwig 1/2 (Alte Grenzstraße 153, 45663 Recklinghausen) zu erleben.