Düsseldorf. . Hausregisseurin Nora Schlocker verlegt den antiken Stoff des Aischylos am Schauspielhaus in die Nazi-Zeit. Die Analogie bei den Fragen um Morde und Schuld scheint auf der Hand zu liegen, entwickelt aber erst im Laufe des Drei-Stunden-Abends eine gewisse Spannung.

Nora Schlocker galt schon mit Mitte 20 als eine vielversprechende deutsche Theater-Entdeckung. Besonders mit zeitgenössischen Dramen machte sich die in Tirol geborene Regisseurin (seit 2011 fest in Düsseldorf) einen Ruf. Häufig im Doppelpack mit Autorin Tine Rahel Völker, die jetzt auch für Schlockers neue Kreation, „Eine Orestie“, einen neuen, anderen Text verfasste. Zwar tragen in dieser Fassung, die jetzt in Düsseldorf uraufgeführt wurde, die Figuren dieselben Namen wie in der Antike bei Aischylos, 458 vor Christus. Doch schieben Klytämnestra und ihr Liebhaber Ägisth Kanonen oder reiten darauf, reden von Krieg, Juden, von Ghettos und einem ‚König von Polen’. Nur wer das Programmheft intensiv studiert, versteht, dass es hier um die Familie von Hans Frank geht - Hitlers Generalgouverneur für Polen, der für den Tod Hunderttausender Menschen verantwortlich war und dafür 1946 in Nürnberg gehängt wurde.

Kein Trojanischer, sondern der Zweite Weltkrieg. Und der siegreich heimkehrende Agamemnon ein Naziverbrecher. Nun ja. Nicht gerade originell, die antike Familientragödie mit ihren Fragen nach persönlicher und politischer Schuld in eine uns nähere Epoche zu übertragen, in der es an Mördern und Schuldigen nicht mangelte. Doch das Besondere an dem Projekt: Völker und Schlocker ließen sich inspirieren von dem Buch „Der Vater“ von Sohn Niklas Frank, der darin 1987 und später in Filmen minutiös die Verbrechen seines Vaters aufführt und erbarmungslos mit ihm abrechnet.

Den Juden Pelze und Schmuck abgenommen

Niklas Frank ist in Schlockers Fassung Orest, der seine Mutter, also Brigitte Frank, in den 50er Jahren auf dem Sterbebett in einem Münchner Seniorenheim erdrosselt. Hier eine lüsterne rothaarige Megäre (Stefanie Rösner), die als Frau des „Königs von Polen“ (wie Frank von der NS-Elite genannt wurde) den Juden Pelze und Schmuck abnahm. So konzentriert sich die Trilogie auf die Frage, warum Orest zum Mörder an seiner Mutter Klytämnestra wird. Nicht wegen des Mordes an seinem Vater Agamemnon. Denn, anders als im Original, wird er (hier Hans Frank) nicht gemeuchelt, sondern erstickt bei einem Dinner an Knochen von Geflügelbeinen.

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Oder, wie er mutmaßt, waren es Menschenknochen aus Vernichtungslagern? Orest (Ingo Tomi) und seine Schwester Elektra (Xenia Noetzelmann) leiden hier an einer Erblast, einer Erbsünde, die sie wiederum zu potentiellen Mördern macht. Beobachtet und kommentiert werden die Ereignisse von Götterbote Hermes, namens Malaparte. Dieser quirlige ewig Reisende Curzio Malaparte war ein deutsch-italienischer Faschist und Mussolini-Freund, der bei den Franks in Polen zu Gast war.

Ein reines Dokudrama jedoch bietet diese „Orestie“ nicht. Vielmehr werden in über drei Stunden historische Figuren der NS-Zeit verwoben - mit antikem Personal und surrealen Bildern über Krieg und den Fluch, dem eine Familie nicht entrinnen kann. Der erste Teil („Die Ratten, der Fluss und der Tod“) spielt während des Kriegs. Er ist mühsam zu entschlüsseln und kommt schwer in Gang. Der zweite Teil, „Kinder der Nacht“, zeigt Franks Kinder in der Nachkriegszeit und die Mutter auf dem Sterbebett. Hier ziehen Tempo und Intensität an, die Darsteller Noetzelmann und Tomi bieten große, spannende Momente, beleuchten die Unentrinnbarkeit ihres Schicksals. Noetzelmann als Elektra in strengem, schwarzem Konfirmationskleid mutiert zur fanatischen Fundamentalistin, lässt ihrem blinden Hass auf Mutter und Krieg freien Lauf, stiftet Orest zum Mord an. Doch Tomi zeigt das beklemmende Porträt von Orest, der an seiner „Mutti“ trotz ihrer Verfehlungen hängt.

Wir zerreißen höchstens Fotos

Im Finale, „Der Sumpf“, wird Elektra mit einem archaischen Holzschwert zwar zur Rächerin am Vatermörder Ägisth, doch spielen zwei bizarre Chorsänger die entscheidende Rolle (Karin Pfammatter, Markus Danzeisen): Sie mäßigen die Rasenden und rufen zur Versöhnung auf. „Wir zerreißen unsere Eltern nicht in der Luft, wir zerkratzen keine Fotoalben oder schmieren Zoten darüber. Wir zerreißen überhaupt niemanden, höchstens das Foto.“ Fazit: Ein anfangs anstrengender, später spannender und lohnenswerter Theaterabend, der die gnadenlose Aufarbeitung der NS-Geschichte durch die Nachkriegsgenerationen geschickt mit der Antike verbindet.

Termine: 20. , 26., 31. Mai, 5., 13., 20., 23. Juni. Tel: 0211 / 36 99 11