Berlin. .

Im Intendantenzimmer gibt ‘s Streuselkuchen. „Der König unter den Kuchen“, sagt Jürgen Flimm (72). Dabei wollten wir über den König der Dramatiker sprechen: Shakespeare. Oder ist er das gar nicht? „Ja und nein“, sagt Flimm. So kommt man ins Gespräch.

Frage: Eine Wochenzeitung hatte jüngst für Shakespeare einen Superlativ zur Hand: „der Größte“. Ist er das auch für Sie?

Jürgen Flimm: Der Größte? Nein, aber er ist unvergleichlich. Shakespeare ist im Grunde vor der Erfindung der Literatur und vor der Erfindung des Regie -Theaters. Er hat ja so wenig zu tun mit dem, was wir heute im Theater an Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten kennen.

Zum Beispiel?

Die Stücke gab es nur ein einziges Mal: im Soufflierbuch, es gab keine Vervielfältigungen. Wie die Schauspieler improvisiert haben, möchte ich nicht wissen. Und wahnsinnig schnell mussten sie spielen, zwei Stücke am Tag, und fertig sein, bevor es Nacht wurde.

Sollten wir uns vor dem Wunsch hüten, per Zeitmaschine eine Inszenierung von 1600 zu sehen?

‘ne Inszenierung haben die auch nicht gemacht. Ich glaube, mit unserem heutigen Bewusstsein wären wir enttäuscht. Es ging ziemlich sicher unflätig zu und laut, Theater inmitten von Dreck und Sauferei, die Künstler nicht ausgeschlossen. Shakespeare war keine literarische Figur, er war vor allem eine riesengroße Theaterfigur.

Aber Goethe jubelt: „nichts so Natur als Shakespeares Menschen“...

Goethe hatte wahrscheinlich ein verstelltes Shakespeare-Bild, das Ordinäre kannte er gar nicht, er kannte wohl nur Bruchstücke. Vor allem die deutsche Romantik hat Shakespeare eine Wellness-Kur verpasst, ihn glattgebügelt. Die ganzen Sauereien, die zu Shakespeares Amüsement dazugehörten, die wurden ja ausgeblendet. In Weimar wäre man in Ohnmacht gefallen, ganz sicher.

War die leere Bühne der Shakespeare-Zeit der Grund für seine enorm bildgesättigte Sprache?

Erstmal war sie Grund für Umbauten, die es gar nicht gab. Da sagt einer: „Halt! Wir sind vor Regans Schloss!“ Da braucht man dann kein Bühnenbild. Das nennt man Wortkulisse.

Ist Shakespeare also die Geburt der Behauptung auf dem Theater?

Ich glaube schon. Da ruft jemand: „Da kommt Regan mit ihren 4000 Mann!“ Die 4000 Mann sind natürlich alle draußen, also gar nicht da, aber der Zuschauer denkt sofort an ein riesiges Heer. Da kann ein Theater schön sparen (lacht). Das hat mir immer sehr imponiert.

Hat man als Schauspieler vor Rollen wie Hamlet und Lear viel Respekt?

Ganz sicher. Vielleicht sogar Angst. Beim Lear muss man auch den Mut haben, jemanden zu spielen, der einfach doof ist. Da kommt einer und verschenkt sein Reich an die böse Sippe.

Ja, Lear, der König ohne Menschenkenntnis. Dass so einer überhaupt ein Reich regieren konnte...

Ob das geht?(lacht) Sie klopfen schon bei Freud an. Aber Shakespeare meint das, was das steht: et is so wie et is. Kinder sind bös, Kinder sind undankbar. Und die alten Männer sind besonders bös und besonders undankbar.

Zum Schluss ein Gedankenspiel. Shakespeare lebte: Fände er noch spannende Figuren? Hoeneß etwa?

Nein, Hoeneß nicht, nicht mal als Clown am Rande. Aber Edathy würde ihn reizen, eine starke Geschichte. Die Jungs von der SPD, die da kommen und Edathy warnen, es aber eigentlich nicht dürfen. Dann die Flucht. Das könnte Shakespeare gefallen. Aber auch Kohl.

Kohl, ein Shakespeare-Held?

Im jetzigen Zustand: ja - eine Shakespeare-Figur, ein Lear. Dieser alte Mann, der kaum noch sprechen kann. Dieses Leben davor: die Putschversuche gegen ihn von Leuten, die er geholt hat. Sowas ist Theaterstoff. Er ist am Ende, dann fällt plötzlich die Mauer und er wird wieder groß. Dann der Spendenskandal – und Jahre später kommt seine Nachfolgerin und überreicht ihm sich selbst als Briefmarke: ein plattgedrücktes gerastertes großes Foto auf Pappe. Was für ein Absturz! Das ist tragisch, komisch, alles drin. Ich denke, Shakespeare hätte nicht nein gesagt.