Gelsenkirchen. . Sie war viele Jahre ein gefeierter Star der Oper, sang Belcanto und die Mordspartien von Richard Strauss. Heute, mit 58, widmet sich Cheryl Studer ganz dem künstlerischen Nachwuchs. Im Interview spricht sie über Defizite der neuen Generation, aber auch über die Freude, junge Sänger ins Leben zu entlassen.

Das Bühnenleben der Cheryl Studer ist das eine. Sie war von Bayreuth bis London der Star unzähliger Opernabende von Verdi bis Richard Strauss. Heute aber stehen junge Leute im Mittelpunkt ihrer Arbeit. In Würzburg hat die US-Amerikanerin eine Gesangsprofessur. Diese Woche gibt’s einen pädogischen Abstecher ins Revier. Dort bittet Studer zwei ausgewählten Ensemblemitglieder des Musiktheaters Gelsenkirchen zum Meisterkurs. Zwischen zwei Lehrstunden traf Lars von der Gönna die gut gelaunte Sängerin zum Gespräch.

Sie haben viele Sänger ausgebildet. Fällt Ihnen ein zentrales Defizit der Jüngeren auf?

Cheryl Studer: Ja! Die Haltung ist sehr schlecht geworden. Und sie beeinflusst leider viele Bereiche: Atemstütze, Artikulation. Es gibt mehr Hohlkreuze, schlappe Hüften, manche gleichen durch einen harten Kiefer aus, was um die Lunge herum an Muskulatur fehlt. Die Haltung ist schlecht geworden, weil die Kleidung schlecht geworden ist. Die jungen Leute „saloppen“ so herum, Hose unten und so. Die haben furchtbar wenig Spannung im Körper: gesunde, elastische Spannung. Aber die ist enorm wichtig, wenn man sich präsentiert. Oft wird Spannung heute durch Steifheit erzeugt, aber natürlich muss Energie fließen, wenn man singt!

„Ein Wunder, dass es nicht mehr Katastrophen gibt“

Gibt es in Ihrem Beruf etwas, das man nicht lernen kann?

Studer: Aber ja, etwas sehr Zentrales. Ich habe das erst durchs Unterrichten begriffen. Es ist einfach das Gespür für Singen und Gesang! Das haben nur die Naturtalente. Natürlich können auch andere professionelle Sänger werden, und sie schaffen es auch, aber man wird immer hören, dass es Arbeit ist: Der eine ist dort zuhause, der andere hat es gelernt.

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Sie haben an den berühmtesten Häusern gesungen. Jeden Abend andere Dirigenten, manchmal kennt man die Kollegen kaum, dazu Chor, Technik, Orchester... Ist es nicht ein Wunder, dass bei so vielen Mosaiksteinen Katastrophen rar sind?

Studer: Ja, wirklich, ein Wunder ist es. Für mich zeigt das, was für gute Nerven Sänger haben, welche absolute Professionalität unser Beruf bedeutet. Wir ziehen es „aus der Tasche“ und sind voll da. Jeden Tag, immer wieder. Das fordert hohe Begabungen.

„Es ist schön, wenn ein junger Sänger frech wird!“

Sie waren lange ein gefeierter Sopranstar. Was macht heute die Erfüllung aus, Gesang zu lehren?

Studer: Ehrlich, der schönste Moment ist, wenn ein Sänger ein bisschen frech wird. Dann merke ich: Der braucht mich nicht mehr. Es ist wunderbar. Ich merke: Er spreizt die Flügel. Jetzt wird er frei, er kann fliegen!

Ihre Erfahrung ist ein Kapital. Was ist Ihr Tipp bei Text-Blackouts?

Studer: Nicht denken! Wenn Sie auf der Autobahn einen Lkw überholen, bekommen Sie in dem Moment Angst, wo sie sich klar machen, dass neben ihnen dieses riesige Auto fährt. Ihr Fahrstil wird völlig anders, unsicher, auf keinen Fall besser. Genauso geht es einem Sänger, der sich diese Extremsituation bewusst macht. Vertrauen haben, nicht denken! Dann kommt der Text schon wieder.