Essen. . Er war der größte Kritiker seiner Werke, erforschte menschliche Begierden und Sehnsüchte und war dabei ganz der Schönheit verschrieben. Am Montag starb Patrice Chéreau an einer Lungenkrebserkrankung. Seine Kunst wird in Erinnerung bleiben.
Er war der Mensch gewordene Wille zum Schönen, ein Regisseur, der die Kunst in den Dienst der Erforschung menschlicher Begierden und Sehnsüchte stellte, ohne dass die Kunst dabei Schaden nahm. Im Gegenteil: Patrice Chéreaus „Jahrhundert-Ring“, der 1976 den Staub aus dem Wagner-Tempel hinwegfegte, hatte alles: kühne Bilder, die das Mythendrama in seine Entstehungsepoche der Industrialisierung verlegten; eine schmerzhaft präzise Personenführung, die Wagners Wesen mit einer subtilen Psychologie ausstatteten; und nicht zuletzt eine Verdichtung, die aus den Weihespielen Musikdramen für die Gegenwart werden ließ. Da war Chéreau gerade mal 32.
Der 1944 geborene, in Paris aufgewachsene Sohn eines Malers und einer Zeichnerin galt bereits mit 15 als Theater-Wunderkind, als Schauspieler wie als Regisseur im Schultheater. Vier Jahre später inszenierte er erstmals an einer Profi-Bühne, kurz bevor er in Paris ein eigenes Volkstheater gründete.
Patrice Chéreau war selbst sein größter Kritiker
„Augen, Körper, Sex – das sind die schönsten Dinge im Leben“, hat Chéreau einmal gesagt. Diese Reihung in der Art eines Kamera-Zooms spiegelt die zweite große Leidenschaft seines Künstlerlebens: Mit „Intimacy“, der 2001 bei der Berlinale den Goldenen Bären errang, schuf er einen Film-Klassiker von kammerspielartiger Dichte: Der Barkeeper Jay schläft jeden Mittwoch mit Claire, einer Zufallsbekanntschaft. Die Vertrautheit ihrer Körper aber zerfällt in Scherben, als Jay mehr von Claire wissen will – die eigentliche Intimität des Menschen liegt nicht in seinen erogenen Zonen, sondern im Ich, das sein Leben ausmacht, seine Privatheit, seine Individualität.
Selbst ein Historiendrama wie „Die Bartholomäusnacht“ von Alexandre Dumas, die er er 1994 mit Isabelle Adjani als Königin Margot verfilmte, geriet Chéreau zur intellektuell-erotischen Durchdringung eines politisierten Beziehungsgeflechts.
Es blieb eine Ausnahme, dass er vor einem Klassiker ehrfürchtig zu erstarren schien wie bei Racines „Phèdre“, mit der er 2003 in der Bochumer Jahrhunderthalle die Ruhrtriennale eröffnete. Ohnehin war dieser Perfektionist der größte Kritiker seiner selbst, nie zufrieden, oft unsicher. Seine Kritiker haben nun keine Chance mehr, ihn von der Qualität seiner Arbeit zu überzeugen: Am Montag ist Patrice Chéreau mit 68 Jahren in Paris an den Folgen einer Lungenkrebserkrankung gestorben.