Essen. Nach zwanzig Jahren immer noch zu entdecken: Jerome Charyn. Die deutschen Krimi-Kritiker wählten seinen Roman „Unter dem Auge Gottes“ auf Anhieb auf den ersten Platz ihrer Bestenliste.

Jerome Charyn, Jahrgang 1937, ist bei uns kaum bekannt. Nicht weil dieser US-Autor zu wenig geschrieben hätte; eher im Gegenteil. Seit über 20 Jahren sind seine Kriminalromane und Geschichtswerke – z. B. „Metropolis New York“, 1990 bei dtv – auch auf Deutsch erschienen, doch fand er weder eine bleibende Verlagsheimat noch eine feste Leserschaft.

Nun also ein neuer Versuch. Der Diaphanes Verlag aus Zürich erweitert sein ziemlich postmodernes Philosophie- und Theorieprogramm um eine kriminalliterarische Reihe, die mit Charyns Roman „Unter dem Auge Gottes“ aus dem Jahr 2012 eröffnet wird. Herausgeber ist Thomas Wörtche, einer der allerbesten Kenner dieses Genres, der vor Jahren schon beim Unionsverlag, ebenfalls in Zürich, unsere eurozentrische oder amerikafixierte Krimiwelt transkontinental erweitert hatte.

Aufstieg vom Cop zum Vizepräsidenten

Im neuen Projekt geht es jetzt eher darum, Spannung und Theorie in einen funkensprühenden Kontakt zu bringen. So erkläre ich mir jedenfalls den rätselhaften Reihentitel „Penser Pulp“ – auch die oft missachtete Literatur („pulps“ waren die US-Krimihefte der 1930er Jahre) ist des Nachdenkens (frz. penser) oder gar des Philosophierens wert.

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Jedenfalls ist Charyn bestens geeignet, dabei den Vorreiter zu geben, hat er doch eine ganz eigene, temporeiche, ja sprunghafte Schreibweise entwickelt. Sie speist sich aus fantastischen, surrealistischen Elementen ebenso wie aus Comics, Slapstick und „short cuts“. Spannend, realistisch und grotesk zugleich fördert und fordert, ja provoziert sie unser Mit- und Nachdenken. Ungewöhnlich sind auch die Dimensionen des Werks: Dieser Roman ist sage und schreibe der elfte Band – nicht etwa einer Serie, sondern einer „Saga“, die den unaufhaltsamen Aufstieg ihres Helden Isaac Sidel vom Cop in der Bronx zum Vizepräsidenten der USA erzählt. Und das muss noch lange nicht sein Karriere-Ende sein!

Beifall von den deutschen Krimikritikern

Natürlich ist dieser Sidel selbst eine im Wortsinn „unglaubliche“ Figur: guter Mensch und böser Bursche, Mafiafreund und Kindertröster, brutal und feinfühlig, und alles in allem so monströs wie „sein“ New York, das er allegorisch verkörpert. Charyns Thema ist also die ewige Geschichte vom amerikanischen Traum wie vom Alptraum Amerika. Stilistisch arbeitet er an der Frontlinie einer postmodernen Literatur, ohne den Markenkern des Krimis aufzugeben. Das wird nicht allen Krimifreunden gefallen; hoffen wir, dass Charyn nicht nur bei den deutschen Krimikritikern Beifall findet, die ihn nun mit einem einzigen Ruck auf den ersten Platz ihrer Bestenliste katapultiert haben.

Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes. A. d. Engl. von Jürgen Bürger. Penser Pulp bei Diaphanes, 286 S., 16,95 €.