Essen. . Bei der Frankfurter Buchmesse präsentiert sich ein spannendes Literaturland voller Fußballstories, Megacity-Dramen, Samba-Romane. Zehn Lektüretipps.

Die heiße Copacabana und kalter Caipirinha, begeisternder Fußball und trostlose Favelas – schon die Klischees lassen die Größe der Gegensätze in diesem Land erahnen. Zur Frankfurter Buchmesse (9.-13. Oktober) präsentiert sich Brasilien als vielfältiges Literaturland, das weit mehr zu bieten hat als den schreibenden Schamanen Paulo Coelho. Wir stellen Romane vor, deren Entdeckung lohnt.

Wie fasst man den Wahn- und Irrsinn der Megacity São Paulo in Worte? Schriftsteller Luiz Ruffato, der in Frankfurt die Eröffnungsrede zum Gastland-Auftritt halten wird, gelingt im Buch „Es waren viele Pferde“ (Assoziation A Verlag, 160 S., 18 €) ein literarisches Kunststück. In 69 Szenen wirft er Schlaglichter auf das Chaos, die Dekadenz, die Gewalt und die Armut der Stadt – eine Collage aus Dialogen, Nachrichten, Einkaufszetteln, Bewusstseinsströmen.

Daniel Galeras: der Jonathan Franzen Brasiliens

Schon mit den ersten Sätzen erfasst uns Daniel Galeras Roman „Flut“ (Suhrkamp, 425 S., 22,95 €). Ein Sohn sieht, wie sein Vater sich erschießt; zuvor hat er ihm von all den seltsamen Toten und Todesarten ihrer Familie erzählt, Ertrunkenen wie Erstochenen. Galera zieht seine Leser in die Tiefen der menschlichen Seele, taucht ab in morastige Familiengeheimnisse. Sein Stil aber bleibt wasserklar und hellsichtig – ein Jonathan Franzen Brasiliens.

Die Cidade de Deus, die „Stadt Gottes“, hatte es dem Anthropologen Paulo Lins angetan. Sein Roman über die Favelas von Rio wurde 1997 als „City of God“ zum Bestseller, 2002 verfilmt und oscargekrönt. Nun widmet sich der Afrobrasilianer, der selbst in den Favelas aufwuchs, der Entstehung eines berühmten brasilianischen Exportgutes: „Seit der Samba Samba ist“ (Droemer, 352 S., 19,99 €) reist zurück in die 1920er-Jahre. Der Zuckerrohrschnaps fließt in Strömen, afrikanische Rhythmen treffen auf brasilianischen Hüftschwung.

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Der Großvater von Michel Laub hat Auschwitz überlebt und kam „in einem dieser vollgepferchten Schiffe“ nach Brasilien. Sein Enkel aber, 1973 in Porto Alegre geboren, beginnt sein „Tagebuch eines Sturzes“ (Klett-Cotta, 176 S., 19,95 €) mit einer Erinnerung daran, wie er und seine Klassenkameraden der jüdischen Schule den Jungen Joao, der „Goi“ war, quälten und schwer verletzten. Ein erschütternder Roman über die Traumata, die über Generationen und Kontinente hinweg fortleben.

Absurde Bahnreise und Weltverschwörung

Der magische Realismus der lateinamerikanischen Literatur findet sich auch in Brasilien. Der 2011 verstorbene Autor Moacyr Scliar verwob Fragen von Identität und Anpassung mit der Geschichte eines Mannes, der als Zentaur auf die Welt kam; die deutsche Übersetzung seines 1980 veröffentlichten Werkes ist jetzt überarbeitet worden: „Der Zentaur im Garten“ (Hoffmann & Campe, 286 S., 19,99 €). Der Düsseldorfer Lilienfeld-Verlag macht sich verdient um ein Büchlein, das Scliar noch im Jahr 2000 schrieb: „Kafkas Leoparden“ (144 S., 18,90 €) erzählt von einer absurden Bahnreise – und der Weltverschwörung.

Die Bilder, die Andréa del Fuego in ihrem Debütroman „Geschwister des Wassers“ (Hanser, 208 S., 17,90 €) entwirft, weichen nur um Millimeter von der Realität ab – doch dieser Abstand ist entscheidend. Die Journalistin und Filmemacherin erzählt die Geschichte dreier Geschwister, die ein Blitzschlag in ihrem Elternhaus in der Serra Morena zu Waisen macht, in klaren, einfachen Sätzen, die nachhallen.

Die Anthologien „Popcorn unterm Zuckerhut“ (Wagenbach, 144 S., 9,90 € ) mit Stadtstorys aus Rio und „Samba Goal“, eine Sammlung von Fußballgeschichten (dtv, 144 S., 9,90 €, ab 1. Oktober im Handel) geben einen rasanten Überblick über die junge brasilianische Literaturszene. Ein Tipp für eilige Leser!