Bayreuth. . Mit dem „Rheingold“ und der „Walküre“ gelingt Frank Castorf in Bayreuth der Auftakt zu einem „Ring“ für die Gegenwart. Musikalisch erreicht das Orchester unter dem subtil dirigierenden Kyrill Petrenko Weltklasse-Niveau – und auch die Sänger-Leistungen können sich hören lassen.

Jede „Ring“-Inszenierung leidet unter einem gewaltigen Erwartungs-, ja Erlösungsdruck. Für Bayreuther Neuinterpretationen gilt das so sehr, dass die Festspielleiterinnen sogar Probleme haben, Regisseure zu finden, die sich die Mammut-Tetralogie mit ihren 16 Nettostunden Musik antun wollen. Frank Castorf, langgedienter Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, unterläuft diese

Ansprüche von Anfang an. Denn er feiert im „Rheingold“ keine Helden, sondern verfremdet sie, und zwar ziemlich hinterlistig. Das Publikum, das im Vorfeld schon das Schlimmste befürchtete, geht mit. Musikalisch und von den Stimmen her spielt der neue „Ring“ bislang auf Weltklasseniveau.

Ein Motel an der Route 66 in den USA bildet die Kulisse für das „Rheingold“. Der geniale Bühnenbildner Aleksandar Denic stellt das Gebäude in mehreren Ebenen auf die Drehbühne. Ein Großbildschirm überträgt die Aktionen der Handelnden simultan. So erfahren wir aus jedem Blickwinkel, was Götter, Riesen, Nibelungen und Rheintöchter gerade so treiben. Tatsächlich sind Tankstelle, Bar und Swimmingpool ein Filmset, bei dem der namenlose stumme Tankwart als Mystery Man die Fäden zieht. Jeder ist hier mal vorbeigekommen: der Pate, Barbarella, der Pinguin mit seiner gelben Ente aus Batman II. Diese Film-Ikonen spielen jetzt Wotan, Alberich, Freia, Donner und Loge – ein deutsches Märchen mit kaputten Heroen und schönen Frauen in Not.

Castorf will einen Öl-Ring zeigen, und das Motel an der Route 66 ist, wenn man dem

folgen will, der nachhaltigste Globalisierungserfolg des Ölzeitalters. Ohne Öl kein Material für Film und keine Filmindustrie, die viel monströsere Bilder erzeugt, als Wagner sie sich je hätte audenken können. Das ist Segen und Fluch zugleich, denn in dieser Traumfabrik gerinnen individuelle Schicksale zu globalen Klischees.

Für Alberich geht es in dieser Situation buchstäblich um die Wurst. Eine Bratwurst schwingend, verabschiedet sich Bassbariton Martin Winkler von der Liebe, um das Rheingold zu rauben. Später wird sein Duell mit Wotan und Loge zum Aufstand eines Bastards. Mit dem Ringfluch wehrt sich das arme Würstchen gegen das Establishment.

In der „Walküre“ reisen die Götter dann weit in der Zeit zurück und nach Osten: nach Aserbaidschan, wo 1873 die erste Ölquelle angebohrt wurde. Dort stehen Förderpumpen, die aussehen wie orthodoxe Holzkirchen, und in dieser ambivalenten Industrie-Architektur siedelt Castorf die Geschichte der Geschwisterliebe zwischen Siegmund und Sieglinde an. Als Siegmund das verheißene Schwert aus dem Baumstamm zieht, sprudelt auf dem Bildschirm das erste Öl: Das bedeutet Technik, Industrialisierung,

Revolution. Die Gesellschaft wechselt gerade von einem autoritären System ins nächste. Bevor der rote Stern auf dem Förderturm leuchtet, halten die Walküren im Bürgerkrieg blutige Ernte. Von diesen Umwälzungen ganz unberührt bleibt der archaische Konflikt: Fricka setzt das heilige Recht der Ehe durch, deshalb muss der ehebrecherische Siegmund sterben. Wotan will seine gott-väterliche Autorität nicht antasten lassen, deshalb wird die selbstdenkende Brünnhilde auf einen brennenden Felsen gesperrt, der hier aus einer brennenden Öltonne besteht.

Maestro Kirill Petrenko psychologisiert in „Rheingold“ und „Walküre“ Wagners Partitur mit größter Raffinesse. Er lässt das phantastische Festspielorchester so leise flüstern wie kaum ein Dirigent vor ihm und gibt bei Gelegenheit dann richtig Gas. Schon im Vorspiel der „Walküre“ wird Siegmunds Verfolgung zu einem rasend herzklopfenden Gewebe aus Panik, das den ganzen Abend grundiert. Petrenko arbeitet mit feinsten dynamischen Abstufungen, so dass auch der Walkürenritt nicht aus dem Graben gebolzt wird, sondern voller Angstlust über die Bühne echot.

„Das Rheingold“: Elisabet Strid (Freia), Lothar Odinius (Froh), Oleksandr Pushniak (Donner), Günther Groissböck (Fasolt), Claudia Mancke (Fricka), Wolfgang Koch (Wotan), Sorin Coliban (Fafner).
„Das Rheingold“: Elisabet Strid (Freia), Lothar Odinius (Froh), Oleksandr Pushniak (Donner), Günther Groissböck (Fasolt), Claudia Mancke (Fricka), Wolfgang Koch (Wotan), Sorin Coliban (Fafner). © dpa

Mit Johan Botha als Siegmund und Anja Kampe als Sieglinde hat Bayreuth ein neues Sänger-Traumpaar. Botha, der seine internationale Tenor-Karriere am Theater Hagen begann, kann lyrischen Schmelz und Heldenglanz bis in die höchsten Höhen unangestrengt verschmelzen. Anja Kampe singt mit inniglicher Strahlkraft. Und natürlich ist es der Abend von Wolfgang Koch als Wotan, der die Monster-Partie mit Genuss in allen Extremen ausreizt, vom fast farblosen Sprechgesang bis zur weichen Kantilene. Franz-Josef Selig ist aktuell als Daland auf dem Grünen Hügel ein Garant für beste Gesangskultur und auch als dunkel-bösartiger Hunding.

Gleichzeitig zeigt die „Walküre“, wie ungerecht das Bayreuther Publikum sein kann. Catherine Foster ist eine unglaubliche Brünnhilde, mit kostbarem dunkelsüßen Timbre, die eben nicht brüllt, sondern genau da leise singt, wo Wagner ein piano in die Partitur geschrieben hat – was übrigens technisch ziemlich schwer ist. Dafür buht ein Teil der Besucher sie nach dem zweiten Akt aus.

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Castorf führt sein bürgerliches Publikum gezielt vor, indem er den Großbildschirm neben die große reale Szene stellt. So ertappt man sich unwillkürlich dabei, dem Sog des Bildschirms zu verfallen und gar nicht mehr auf die kleinen Menschlein zu achten, die so wunderbar singen. Öl mag vielleicht ein Aufhänger sein, für diesen „Ring“, aber es geht vor allem um die Macht der medialen Bilder.