Hagen. .
Gelehrter, Poet, Kritiker, Redner, Denker, Drehbuchautor, politischer Streiter, Meinungsmacher, Fernseh- und Fußballfachmann, Hörspielschreiber: Walter Jens, der am Sonntagabend in seiner Tübinger Wahlheimat mit 90 Jahren einem langen Leiden erlegen ist, war all dies in einem – ein großer Mann des Worts mit großem Schatten, der nur zu gut darum wusste. Er war und blieb selbst in den letzten zwanzig Jahren ein Mann der alten Bundesrepublik, aber das wollte Walter Jens schon nicht mehr wissen, noch bevor ihn die Demenz ab dem Jahr 2004 allmählich ins Meer des Vergessens einsinken ließ.
Christ, Pazifist, Radikaldemokrat
Der Mann, der sich im Zweiten Weltkrieg bis zuletzt vollsog mit Germanistik, griechischer wie römischer Antike und einer allumfassenden Bildung, weil ihn das Asthma vor dem Wehrdienst bewahrte, gehörte seit 1950 als Schriftsteller zur Gruppe 47, der Karriere- und Buchschmiede der deutschen Nachkriegsliteratur. Zeitlebens war Jens zugleich ein außerordentlicher Gelehrter, dem man 1962 in Tübingen den bis heute einzigen deutschen Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik auf den Leib zuschnitt. Rhetorik war für Jens nie nur Redekunst, er sah sie stets als Einstieg in einen Dialog, in eine Auseinandersetzung um das beste, genaueste Denken.
Die Literaturgeschichte, die er verfasste, wurde zum Standardwerk, er nannte sie „Anstatt einer Literaturgeschichte“. Der Widerspruch war die große Leidenschaft des Walter Jens, der Einspruch gegen das geräuschlose Funktionieren der Macht in Politik und Alltag. Als Christ und Pazifist stritt er gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands in den 50er-Jahren, bekannter wurde sein Engagement gegen die Nato-Nachrüstung in den 80ern, mit jener legendären Sitzblockade des US-Raketenstützpunkts Mutlangen oder durch das Verstecken desertierte US-Soldaten im zweiten Golfkrieg 1990.
NSDAP-Mitglied
Walter Jens wurde, der spät entdeckten NSDAP-Mitgliedschaft ab 1942 zum Trotz, nach dem Krieg zum Radikaldemokraten, der keinen großen Unterschied machen wollte zwischen Literatur-, Fernseh- und Gesellschaftskritik. Über zwei Jahrzehnte schrieb er bis 1985 Woche um Woche unter dem Pseudonym „Momos“ übers Fernsehen für die angesehene „Zeit“, und dass er als gelernter Torwart auch bei Fußballspielen die Übersicht behielt, ging Neidern und Kritikern oft zu weit. Einen „literarischen Hansdampf in allen Gassen“ nannten sie ihn, einen „Fortschrittsopernsänger“ – nicht zuletzt, weil er noch 2006 zur Fußball-WM eine neue Nationalhymne mit einem Text von Bertolt Brecht vorschlug.
Depressionen, Demenz
Sein erstes Stück Literatur war 1947 die Erzählung „Das weiße Taschentuch“, und sie enthielt im Kern schon jene Parabelhaftigkeit, jene politische Wirklichkeitsprägung, die alle Hör- und Fernsehspiele, alle Romane und Erzählungen von Walter Jens durchdrang. Das weiße Taschentuch stand für verdächtigen Pazifismus, die Sprache des Debütanten war noch Allzuspät-Expressionismus. Das sollte sich mit seinem ersten Roman „Nein. Die Welt der Angeklagten“ (1950) gründlich ändern, die negative Utopie einer totalitären Gesellschaft, deren letztes menschliches Zeichen ein lautes „Nein!“ war. Von jetzt sollten Hemingway und Kafka sprachlich-literarische Leitsterne dieses enorm produktiven Autors werden, knappe Sätze und Bilder einer Realität, die in surrealer Übertreibung kenntlich wurde. Seine Werke waren durchdrungen von „Phantasie und gesellschaftlicher Verantwortung“.
Ein Literatenleben lang war Walter Jens’ Ehefrau Inge, die er 1951 geheiratet hatte, sein Widerpart in jeder Hinsicht, auch intellektuell. Sie schrieben manches gemeinsam, diskutierten über alles, stritten mitunter leidenschaftlich. Gemeinsam mit ihr, der Herausgeberin von Thomas Manns Tagebüchern, gelang Walter Jens 2003 ein letzter Bestseller über Thomas Manns Ehefrau Katharina Pringsheim. Danach versank er durch das Bekanntwerden seiner NS-Parteimitgliedschaft und ihrer langen Verheimlichung in Depressionen, denen er nur noch mit Medikamenten entkam. Bis allmählich die Demenz einsetzte.