Mülheim. . Katja Brunners Missbrauchs-Drama „Von den Beinen zu kurz“ überzeugte die Jury bei den Mülheimer Theatertagen. Die junge Schweizerin stach damit Urgesteine wie Franz Xaver Kroetz und Elfriede Jelinek aus. Auch den Publikumspreis erhielt eine junge Autorin: die 1985 geborene Marianna Salzmann.

Der Skandal des Kindesmissbrauchs ist das größte gegenwärtige Drama in der Gesellschaft, wird von der Gegenwartsdramatik auf deutschen Bühnen aber weitgehend ignoriert. Bisher. Denn nun waren bei den Mülheimer Theatertagen gleich drei Stücke zum Thema zu sehen: von Elfriede Jelinek, Franz Xaver Kroetz sowie einer unbekannten 22-Jährigen namens Katja Brunner. Letzere erhielt nun, als jüngste Preisträgerin in der Geschichte des Theaterwettbewerbs, den mit 15 000 Euro dotierten „Stücke“-Preis.

Was ist das eigentlich, Liebe? Was unterscheidet Elternliebe von leidenschaftlicher Liebe? Und wie soll man diese Frage beantworten können, wenn man Kind ist? Katja Brunners Drama „Von den Beinen zu kurz“ bricht mit allen Tabus: Sie lässt eine junge Frau erzählen, die schon als Säugling vom Vater missbraucht wurde. Die mit dem Missbrauch als Normalzustand aufwuchs und nun die Norm der Gesellschaft herausfordert – um sich selbst zu schützen. „Mit einem Kind, da bist du inniger, zarter“, heißt es einmal, „viel zarter, weil es ja auch verletzlicher ist, viel, und da brennen vielleicht auch einmal die Sicherungen durch, weil ein Papa verrückt wird vor so viel Zartheit.“

Abrechnung mit den "Wohlfühlempörten"

Brunner erzählt rückblickend; teils spricht die Frau, teils malen andere sich, wie im Kinderspiel, Szenen aus. So entsteht ein dicht gewebter Teppich, unter dem allzu viel Weggekehrtes liegt. Dass das Opfer sich in seiner so besonderen Rolle gefiel, ist ein Gedanke, der in kein Muster passt.

Sie habe „mit den Wohlfühlempörten“ abrechnen wollen, sagt Brunner, sie hätte „eine grundsätzliche Wut auf verschiedene Scheinheiligkeiten“ verspürt – und sie betont, dass ihrem Text kein autobiografisches Drama zugrundeläge, sondern intensive Recherche. Derzeit studiert sie am Literaturinstitut Biel sowie Szenisches Schreiben an der der Universität der Künste in Berlin. Man darf gespannt sein.

Dem Nachwuchs eine Chance gegeben

Dass die Jury, die im vergangenen Jahr noch auf Peter Handke gesetzt hatte, nun einem so jungen, unbekannten Talent den Preis zugesprochen hat, kann man kaum genug loben. Den Reigen der acht Stücke (der am Mittwoch mit Azar Martazavis „Ich wünsch mir eins“ zu Ende ging) bestritten immerhin viele Autoren, die quasi naturgemäß Preisvergabe-Reflexe auslösen.

So hatte Franz Xaver Kroetz, 1976 der erste „Stücke“-Preisträger überhaupt, mit „Du hast gewackelt“ dem in Saarbrücken getöteten Pascal ein Denkmal gesetzt. Wohingegen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek (die bereits vier Mal bei den „Stücken“ abräumte!) in „FaustIn and Out“ Entführungsdramen wie den Kampusch-Fall mit dem Goethe-Stoff verwob. Die Jury aber setzte mutig auf den Nachwuchs.

Und die Zuschauer auch: Den Publikumspreis der Theatertage gewann die zweitjüngste Autorin im Wettbewerb. Marianna Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren, begeisterte die Theatergänger mit „Muttersprache Mameloschn“.