Utrecht. . Eine der größten Plattenbörsen Europas ist in Utrecht. Auch am nächsten Wochenende wird sie Fans, Liebhaber und Verrückte aus aller Welt anlocken. Die Objekte ihrer Leidenschaft sind alt, schwarz und rund.
MP3? Martin lacht. „Hör ich nicht.” Also CDs? Martin winkt ab. „Will ich nicht!” Martin will – Vinyl. „Alles, was es so gibt”, sagt er. Lieber noch das, was es eigentlich nicht mehr gibt. „Raritäten, limitierte Auflagen, Sonderpressungen.“ Deshalb hat sich der 44-Jährige ins Auto gesetzt und ist herübergekommen aus Deutschland. Zur Schallplatten- und CD-Börse nach Utrecht. „Die größte der Welt“, sagen viele, die sich auskennen in der Szene. „Die größte in Europa“, behaupten die Veranstalter. „Auf jeden Fall sehr groß“, weiß Martin und scheut sich nicht, die schmucklose, nüchterne Messehalle am Rand der Stadt ein „Paradies“ zu nennen. Martin ist kein Einzelfall.
Früh am Morgen sind die ersten gekommen. Etliche aus der Umgebung, fast genauso viele aus dem deutschen Westen. Aber auch aus allen Teilen Europas. Und aus Übersee. Denn: „Was du hier nicht kriegst, kriegst du nirgendwo“, glaubt Juan aus Portugal. Per Billigflieger ist er aus Lissabon angereist – mit leeren Taschen und voller Geldbörse. „Morgen muss ich bestimmt wieder zahlen, weil mein Koffer zu schwer ist . . .“
500 bis 600 Händler
Zwei Mal jährlich findet die Börse in Utrecht statt. Einmal im Frühjahr, einmal kurz vor Weihnachten. „500 bis 600 Händler kommen im Schnitt”, sagen die Veranstalter.
Die Händler bringen alte Schellack-Platten mit und neue CDs. Vor allem haben sie Vinyl dabei, ein Format, das für die Musikindustrie kaum noch eine Rolle spielt. Nach Angaben des Bundesverbandes Musikindustrie (BVMI) betrug der Anteil der Schallplatte an den Musikverkäufen im ersten Halbjahr 2012 genau 1,3 Prozent.
An den im Schnitt rund 30 000 Besuchern der Utrechter Börse kann das nicht liegen. Profis haben große Taschen dabei oder gleich einen Trolley mitgenommen. Mit flinken Fingern blättern sie durch die Kisten, gehen ohne aufzublicken kurz einen Schritt zur Seite. Und durchforsten die nächste Kiste. „Du musst dich ranhalten“, weiß Peter (54) aus Dortmund. „So viel, wie es hier zu sehen gibt.“
Über eine Million Platten
Über eine Million Platten, schätzen die Veranstalter, werden jedes Mal angeboten. Deutscher Schlager steht neben LPs mit Cajun-Musik, Surf-Musik neben afrikanischen Stammesgesängen und Chorälen gregorianischer Mönche. Und ein polnischer Händler bietet japanische Pressungen französischer Hits aus den 60er-Jahren an.
Mit Michael Jacksons „Thriller“ oder Fleetwood Macs „Rumours“ könnte man Wände tapezieren. Stückpreis: Ein Euro. Aber das ist nur was für Anfänger. Die Profis suchen Rares. Und das in möglichst gutem Zustand. „Mint“ ist das Zauberwort und steht für eine LP in quasi fabrikneuem Zustand. Aber „mint“ ist teuer. Ein paar Hundert Euro für ein seltenes Stück sind eher die Regel als die Ausnahme.
Manches wird mit Handschuhen angefasst
Das erklärt, warum manches Album nur mit Handschuhen ins Licht gehalten und auf feinste Kratzer untersucht wird. Und erklärt auch, warum Börsen wie in Utrecht auch im Internet-Zeitalter immer noch so gut besucht werden. „Ich will sehen, was ich für so viel Geld kaufe“, sagt Oleg (45), der aus der Ukraine angereist ist. „Das kann ich bei Ebay nicht.“
Am Nachmittag gönnen sich die ersten eine kleine Pause bei Kaffee und Zigarette. Die Geschichten, die dabei zu hören sind, erzählen von einer wahren Leidenschaft, die meist in der Jugend begonnen hat – und im Alter bei manchem längst zur Obsession geworden ist.
Von Urlauben, die ausfallen, weil das Ersparte wieder einmal für zwei seltene Folk-Rock-Alben draufgegangen ist. Von Wohnungen, die längst zu klein geworden sind. Und von Zimmern, in denen immer die gleiche Temperatur herrscht und in denen die Rollladen nie hochgezogen werden: „Sonst könnten die Cover durch das Licht verblassen.“
8000 Raritäten im Regal
Die Menschen, die diese Geschichten erzählen, sind für iTunes oder Spotify verloren. Oder? „Ach Quatsch“, sagt Matthias, der zu Hause 8000 seltene LPs im Regal stehen hat und – wie fast alle – deshalb seinen vollen Namen lieber nicht in der Zeitung sehen möchte. Festplatten und CDs traut der 48-Jährige dennoch nicht. „Geht doch alles nach ein paar Jahren kaputt.“ Ganz anders als seine Vinyl-Platten. „Die kann ich auch noch hören, wenn ich 80 bin.“