Als Marco nach Hause radelt, spürt er kühle Nachtluft und Ernüchterung. Denise hatte nicht mehr viel gesagt gerade. Sie ist schon 17, ein Jahr älter. Marco hatte sich ungeschickt gefühlt, sich selbst da liegen sehen, wie im Film. Und dann war es auch schon vorbei. Marco tritt fester in die Pedale. Gleich ist er zu Hause.

Jugendliche haben heute mehr nackte Haut gesehen, mehr über Sex gehört als je eine Generation vor ihnen. Wenn sie heute ihr erstes Mal erleben, sind sie auf- wie abgeklärt zugleich. Und dabei doch verunsichert durch die Flut fremder Drehbücher im Kopf. Die Macht der Bilder – was macht sie mit dem Intimleben?

Wissen Sie noch, wo und wie Sie Ihr „erstes Mal“ erlebten? Bestimmt. Erste Male sind etwas Besonderes – der erste Sex umso mehr. Auffallend oft dient er als das komische Element in unserer privaten Geschichtsschreibung: wie schwitzig unsere Hände damals waren, wie unbeholfen unsere Körper! Storys vom ersten Mal handeln häufig von geradezu klassischen Missgeschicken, von Kondomen, die rissen, Sektgläsern, die kippten – oder von Kerzen, die unversehens Bettdecken entzündeten. In die Komik aber mischt sich oft leise Melancholie: Aus jugendlicher Sicht markiert das erste Mal den Übergang zum Erwachsensein, ist aufgeladen mit Wünschen, Hoffnungen, Ängsten. Der erste Sex ist die Stunde, da wir nichts voneinander wussten – und wenig von uns selbst. Heute so wie vor hundert Jahren. Auch wenn sonst vieles anders ist.

Zu mir oder zu dir?Als die Liebe laufen lernte

Sex fühlt sich gut an. Weil er der Fortpflanzung dient. Genauso, wie Essen uns Befriedigung verschafft, damit wir es nicht aus Versehen vergessen. Unsere sexuelle Erregung wird gesteuert von Testosteron und Östrogen: Diese beiden Hormone machen, dass wir es machen wollen – und zwar subito! Mischen auch noch Dopamin, Noradenalin und Serotonin mit, haben wir uns verliebt. Bis zur Goldhochzeit schaffen wir es dank Oxytocin und Vasopressin, den Bindungshormonen.

Simple Biochemie also. Wozu dann all das Gewese?

Sex hat eine emotionale, moralische und politische Dimension. Was wir im Schlafzimmer treiben (oder nicht), hält der Welt da draußen einen Spiegel vor. Wie wir mit den Bedürfnissen unseres Körpers umgehen, ist geprägt von den Regeln und Werten der Gesellschaft.

Lust und Liebe: Vor gar nicht so langer Zeit haben Männer und Frauen ihr erstes Mal oft erst in der Hochzeitsnacht erlebt. Mit Partnern, die sie vielleicht gar nicht aus Liebe, sondern aufgrund gesellschaftlicher Konventionen geheiratet haben. Heute können wir heiraten, wen wir lieben – und vieles mehr: Die Polyamoristen führen Liebesbeziehungen zu mehreren Partnern. Die Asexuellen lehnen die körperlichen Aspekte der Liebe ab. Und gute Freunde haben heute schon mal Gelegenheitssex. Seit kurzem hilft bei der „Freundschaft plus“ sogar Facebook: Die App „Bang with friends“ zeigt, wer Lust auf ein Treffen hätte. Und „Neon“, die Zeitschrift für Junge und Sichjungfühlende, gibt hilfreiche Tipps: Sobald man merkt, dass man sich verliebt hat – das Ding beenden!

Lust und Moral: Als vor gut hundert Jahren Sigmund Freud die Triebe tief in unserem Innern ans Licht zerrte, als er ihre Unterdrückung als Ursache psychischer Störungen und „Hysterien“ ausmachte, war die Gesellschaft geschockt. Damals war es durchaus üblich, Jungs nachts die Hände am Bettpfosten festzubinden – der Film „Das weiße Band“ zeigte das jüngst eindrucksvoll. Auf Triebe reimte sich nicht Liebe, sondern: Hiebe. Und obschon der Kinsey-Report bereits in den 50er-Jahren belegte, dass unter fast jeder Bettdecke auch im Alleingang typische Handbewegungen ausgeführt wurden, kamen noch Anfang der 70er-Jahre zwei zu heiße Nummern der „Bravo“ auf die Liste jugendgefährdender Schriften. Der damalige „Dr. Sommer“, Martin Goldstein, hatte darin über Selbstbefriedigung geschrieben.

Lust und Politik: Dass die moderne Gesellschaft rasant alle Hüllen hat fallen lassen, haben wir der „Sexuellen Revolution“ der 68er zu verdanken. Unter diesem Schlagwort, von Psychoanalytiker Wilhelm Reich in den 40er-Jahren geprägt, setzte die Bewegung Sex als politisches Mittel in Szene. Damit hatte sie in Zeiten, in denen noch ein blanker Busen als pornografisch galt, leichtes Spiel.

Und heute? Talkshows behandeln schon am Nachmittag das Thema Fetisch-Sex. SM-Romane stürmen die Bestsellerlisten. „Feuchtgebiete“ werden ebenso öffentlich diskutiert wie Analsex. Dank Internet ist heute jeder nur Sekunden entfernt von Darstellungen noch der absonderlichsten Formen der Vereinigung.

Während ihre Eltern sich im gleichen Alter Zettelchen zuschoben, auf denen stand „Willst du mit mir gehen? Kreuze an!“, haben heute ein Drittel aller Mädchen und Jungen im Alter von elf Jahren bereits „einschlägige“ Bilder gesehen. Dafür wurden sie kürzlich „Generation Porno“ getauft. Was aber bedeutet es für Jugendliche, angesichts der Bilderflut ihren (und andere) Körper zu entdecken?