Oberhausen.. 220.000 russische Flüchtlinge veränderten in Deutschland Atmosphäre und Alltag. Michael Kerstgens’ Fotos, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten entstanden, erzählen das. Zurzeit sind sie, nach einem großen Ausstellungserfolg im Jüdischen Museum Berlin, in der Ludwiggalerie Oberhausen zu sehen.

Anfang der 90er-Jahre hatten die Nazis ihr Ziel fast erreicht: Die jüdischen Gemeinden in Deutschland waren auf 30 000 Mitglieder geschrumpft, die meisten hatten das Rentenalter längst erreicht. Doch der Beschluss der Innenministerkonferenz, Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ohne Einschränkung ins Land zu lassen, brachte die Wende: Heute sind zwischen Flensburg und Lörrach 104 000 Menschen in jüdischen Gemeinden organisiert. Die Flüchtlinge haben das jüdische Leben erneuert, die jüdische Identität wiederbelebt und ein wenig selbstverständlicher gemacht – soweit das geht in einem Land, zu dessen Geschichte der Holocaust gehört.

Bis 1990 erschöpfte sich die öffentliche Präsenz von Juden hierzulande im Gedenken und Mahnen. Eine unwirkliche Existenz, so wie das Foto von Heinz Galinski, ihrer Galionsfigur, in jenem Glaskasten, auf dem „Jüdische Gemeinde im Spiegel der Presse“ steht: In dem Kasten hängt nichts außer dem Foto von Galinski, mit Trauerrand. Der Tod des langjährigen Zentralrats-Vorsitzenden im Sommer 1992 war eine Zäsur.

 Aufnahmestelle und Übergangsheim der Regierung Oberpfalz. In der ehem. US-Kaserne leben jüdische Familien bis zu 12 Monate, bevor sie in die Jüdischen Gemeinden vermittelt werden können – oder auch in Weiden bleiben.
Aufnahmestelle und Übergangsheim der Regierung Oberpfalz. In der ehem. US-Kaserne leben jüdische Familien bis zu 12 Monate, bevor sie in die Jüdischen Gemeinden vermittelt werden können – oder auch in Weiden bleiben. © Michael Kerstges / Ludwiggalerie Oberhausen | Michael Kerstges / Ludwiggalerie Oberhausen

Und mit diesem Bild beginnt die zwei Jahrzehnte umfassende Foto-Ausstellung des aufblühenden jüdischen Lebens, die der „Stern“- und „Geo“-Fotograf Michael Kerstgens zuerst im Jüdischen Museum Berlin zweimal verlängern musste, bevor sie nun nach Oberhausen in die Ludwiggalerie kommen konnte: „Russen Juden Deutsche“. Anfangs wollte Kerstgens wissen, wie das jüdische Leben hinter den verglasten Fassaden aussieht. So fotografiert er eine Beschneidung, zu der ein Mohel aus Zürich eingeflogen werden musste, weil die Berliner Gemeinde so jemanden gar nicht hatte, der Beschneidungen vornehmen kann. Und plötzlich gibt es wieder eine jüdische Grundschule in Berlin, plötzlich wird in Weiß vor der Synagoge geheiratet, wenn auch anderthalb Stunden zu spät, weil die Frau auf dem Kutschbock zwar alle Kirchen von Berlin kennt, aber nicht weiß, wo die Synagoge steht. Plötzlich lernen Kinder wieder, wie man sich auf den Schabbat vorbereitet, und haben auch Unterricht zur Bar Mizwa wie ihre Altersgenossen zur Kommunion oder Konfirmation.

Jubelnder Kaminer in „Russendisko“

Michael Kerstgens fotografiert dies alles, so wie auch den Filmproduzenten „Atze“ Brauner, dem es auf dem Chanukkaball im Interconti inzwischen zu russisch zugeht und der sich deshalb lieber auf dem festlichen Jahresball des TuS Makkabi Berlin sehen lässt. Oder den jungen, ausgelassenen DJ namens Wladimir Kaminer in seiner „Russendisko“.

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