Ankara. Sie waren weder in Buchhandlungen noch in Bibliotheken zu finden, und wer ein Exemplar in seinem Bücherregal hatte, machte sich theoretisch strafbar: Dank der türkischen Justizreform sind jetzt Marx und Lenin, kurdische Autoren und moderne türkische Lyriker straffrei erhältlich.
Wer bisher in der Türkei Lenins Buch „Staat und Revolution“ oder „Das Kapital“ von Karl Marx lesen wollte, hatte Pech. Die Schriften waren verboten – zwei von geschätzt fast 23.000 mehr oder minder literarischen Werken, die auf dem Index standen.
Sie waren weder in Buchhandlungen noch in Bibliotheken zu finden, und wer ein Exemplar in seinem Bücherregal hatte, machte sich theoretisch strafbar. Wer dennoch „Das kommunistische Manifest“ oder Stalins „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ sein Eigen nennt, kann nun wieder sorglos darin schmökern. Denn nun liefen die Bücherverbote aus. Im Juli 2012 hatte das türkische Parlament im Rahmen einer Justizreform eine Regelung beschlossen, wonach alle Verbote für Bücher und Zeitschriften aufgehoben werden, sofern nicht ein Gericht innerhalb von sechs Monaten die Zensur rechtskräftig bestätigt. Die Frist verstrich, ohne dass es ein einziges Gerichtsurteil gab.
Einige der jetzt aufgehobenen Verbote gehen zurück bis in die Ära der osmanischen Sultane im frühen 19. Jahrhundert. Die weitaus meisten datieren aber aus der Zeit nach Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923. Vor allem nach den Militärputschen der Jahre 1960, 1970 und 1980 wurde sozialistische und kommunistische Literatur verboten. Seit Mitte der 1980er Jahre kamen auch zahlreiche Bücher zur Kurdenfrage auf den Index.
"Mein Kampf" gab es lange frei zu kaufen
1987 wurde der Weltatlas des renommierten Verlages National Geographic verboten, weil ein Zensor auf einer Karte das in der Türkei geächtete Wort „Kurdistan“ entdeckt hatte. Während der Bannstrahl sogar eine Reihe harmloser Kinderbücher traf, war allerdings Adolf Hitlers „Mein Kampf“ lange in fast allen Buchhandlungen zu kaufen. Das Buch war sogar ein Bestseller, bis der Freistaat Bayern als Inhaber der Rechte 2007 bei türkischen Gerichten ein Verbot durchsetzte, weil die Verlage das Buch ohne Druckgenehmigung publiziert hatten.
Die Mehrzahl der Verbote betrafen türkische Autoren wie Aziz Nesin, Ismail Besikci und Nazim Hikmet, der als Begründer der modernen türkischen Lyrik gilt. Hikmet starb 1963 im Exil in Moskau, erhielt aber 2009 posthum die türkische Staatsbürgerschaft zurück. Hikmets Bücher wurden trotz des Banns viel gelesen – ein Beispiel dafür, dass Verbote nur begrenzte Wirkung haben.
Immer noch Einschränkungen bei Meinungs- und Pressefreiheit
Trotz der Wiederzulassung der verbotenen Bücher hat die Türkei weiterhin ernste Defizite bei der Meinungs- und Pressefreiheit. Nach Angaben des Vorsitzenden des türkischen Verlegerverbandes, Metin Celal, sind gegenwärtig Verbotsanträge gegen 67 Bücher und 16 Zeitschriften anhängig.
Nach Angaben des New Yorker Komitees zum Schutz von Journalisten sitzen in der Türkei 50 Medienmitarbeiter wegen ihrer Arbeit in Haft – mehr als in jedem anderen Land. Die Organisation Reporter ohne Grenzen bezeichnet die Türkei deshalb als „das weltgrößte Gefängnis für Journalisten“.