London. . Tournee-Auftakt in der O2-Arna von London: Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und Ronnie Wood in Hochform. Die Fans waren aus aller Welt angereist und zahlten Mondpreise für die Karten zum „lebenden Weltkulturerbe“ auf der Bühne.
Eine Riesen-Arena, himmelhohe Ticketpreise und Erwartungen und kein Musiker unter 65 – die meisten Bands hätten unter so viel Druck nur scheitern können. Doch die Rolling Stones machten zum Tour-Auftakt Sonntagabend einfach alles wie immer: Sie präsentierten sich absolut entspannt, hyperaktiv und ziemlich verrückt – eine unmögliche Kombination, die erklärt, warum nur die Fans, nicht aber die Superstars zu altern scheinen.
Aus Spanien, Japan und Russland waren die Fans zur O2-Arena in Londons Südosten gepilgert, darunter auch der Münchner Thomas Zott (35) mit seinem Kumpel Peter (57). Der träumt schon im Foyer mit anderen Glückseligen: „Für unsere Generation ist dies das wichtigste Kulturereignis der letzten 50 Jahre.“ Angst vor einem Flop, dass die Stones gegen die großen Erinnerungen von einst heute irgendwie fader und beliebiger wirken könnten, glaubt hier niemand. „Die Stones sind lebendiges Weltkulturerbe“, sagt Zott, ein „Urknall, ein Lebensgefühl“, meint Peter. Sie sind nicht enttäuscht worden: Kein einziger der 20.000 Plätze in der Arena wird an dem Abend zum Sitzen benutzt – stattdessen tanzen und feiern die Gäste zweieinhalb Stunden am Stück die womöglich letzte Auferstehung dieser Kult-Band.
Ihre Version des Beatles-Songs „I Want To Be Your Man“ setzt gleich den Ton für den Abend – eine atemlose Retrospektive auf Lieblinge aus fünf Dekaden, darunter „Gimme Shelter“, „Paint It Black“ und „It’s Only Rock’n Roll“. Neue Songs wie „One More Shot” haben es beim Publikum weitaus schwieriger, auch wenn den Veteranen fast alles – selbst Gospeleinlagen und Chor-Gesänge – frenetisch abgenommen wird. Für die begehrtesten Tickets des Jahres will der graumelierte, arrivierte Großteil der Fans in Steppjacken und Designerbrillen eben vor allem eines sehen: Dass sich alles ändern mag, nicht aber die Stones.
"It's only Rock'n'Roll" - die Stones können es immer noch
Dass sie immer noch Rock’n'Roll können, und zwar mindestens so gut wie in ihrer Testosteron-Ära, das muss selbst Keith Richards erst einmal sacken lassen. „Schön, dass ihr da seid“, krächzt er fast schüchtern ins Mikro, „schön, dass überhaupt jemand da ist.“ Dann schickt er mit ein paar Griffen jenen Sound an die ergebenen Fans, über den Iggy Pop im Aufwärm-Video sagt, man hätte beim Hören das Gefühl, mit einer toten Makrele auf den Kopf geschlagen zu werden. Größere Komplimente können die Alten Wilden einander kaum machen.
Rolling Stones in London
Die glatte Showbusiness-Show von Frontmann Mick Jagger, der Band und Programm nahtlos und energisch verzahnt, kann über das Quäntchen Rührung nicht hinwegtäuschen: Auch für die vier Herbstzeitlosen ist der Spaziergang durch die Gassen der Erinnerung ein sentimentaler. Man kann nur ahnen, was Gast-Gitarrist Mick Taylor denkt, als er nach seinem Gitarren-Solo in „Midnight Rambler“ Keith Richards auf die Schläfe küsst. Oder Richards und Ronnie Wood, die bei „Wild Horses“ einfach umeinander kreisen, sich instinktiv in die Akkorde des anderen einfinden und die Augen schließen – zwei hagere, wippende Vögel mit Lebensfurchen im Gesicht, Richards Haupt dazu apostelhaft umkränzt von einem karmesinroten Tuch. Dass eben auch die unkaputtbaren Stones nicht über der Zeit stehen, wird klar, als Drummer Charlie Watts kurz nach vorn soll für einen Applaus: Er hinkt und humpelt, zieht die schiefen Schultern gerade und trollte sich schnell wieder hinter sein Instrument.
Nach solchen Hinweisen auf das biologische Alter der Superstars muss man allerdings schon sehr genau fahnen – denn jedem Ex-Stones-Mitglied und jedem Weggefährten, den sie auf die Bühne holten - ob Jeff Beck („I’m Going Down“), Bill Wyman oder Mick Taylor - sieht man das satte Dolce Vita gesetzter Herren deutlicher an. Mick Jagger hingegen, die Windhund-Silhouette kaum verhüllt in schmalen Shirts, hüpft, schlängelt und kiekst sich über den Laufsteg, dass selbst sehr junge Fans, für die es das erste Stones-Live-Konzert ist, beeindruckt sind: „Unfassbar“, sagt einer, „wie alt ist der jetzt – 60?“ Jagger wird nächsten Juli 70.
Jagger hat genug Puste für mehrere Zugaben
Kein Grund, weniger hyperaktiv, entrückt oder absolut gaga zu sein: Im Schnellboot ließ der Drama-König sich über die Themse zur Arena bringen; für „Sympathy For The Devil“ stellt er sich in einem bodenlangen, schwarzen Cape aus Straußenfedern in das Licht eines einsamen Scheinwerfers. Nicht einmal ist dem Frontmann die Puste ausgegangen und hätte den Stones keiner nach der zweiten Zugabe (You Can’t Always Get What You Want; Jumping Jack Flash) bedeutet, dass ihnen gleich der Saft abgedreht wird, dann hätte es noch gemütlicher werden können.
Über einen schlechten Deal dürfte sich jedenfalls kein Fan bei dem Programm geärgert haben – dabei haben einige mindestens ihr Sparbuch für den Abend plündern müssen. Bei 200 Euro lagen die billigsten Tickets ursprünglich, Händler drückten die Preise dann bis auf 1500 Euro für einen Stehplatz direkt an der Bühne hoch. Neidisch dürften Tausende Stones-Jünger deshalb auf Joachim Heydgen aus Konstanz gewesen sein, der direkt in der ersten Reihe Platz nehmen durfte – und zwar, ohne ein Vermögen bezahlt zu haben: „Unsere Tickets sind nie angekommen“, sagt er, „am Schalter heute Abend haben wir als Ersatz dann diese Plätze bekommen.“