Frankfurt/Main. Schriftsteller John Irving ist ein liberaler Mensch - und freut sich über Mitt Romneys Niederlage bei der US-Wahl. Denn mit dessen Welt- und Menschenbild kann er, wie er im Interview erzählt, wenig anfangen. Die Republikaner sind ihm zu wenig tolerant, zudem stamme ihre Sexualmoral aus den 50ern.
Wer John Irving die Hand schüttelt, muss das vorsichtig tun: Vor Jahrzehnten brach er sich beim Ringen mehrfach die Finger, wegen komplizierter Nachwirkungen wurde er jüngst operiert. Die medizinischen Details erklärt Irving seinem Gegenüber so genau, wie er derlei Missgeschicke auch in seinen Romanen schildert. Mit Britta Heidemann plauderte der Star-Autor über Sex, Politik und seinen neuen Roman.
Herr Irving, vor einigen Wochen ist „In einer Person“ auf Deutsch erschienen, Sie erzählen von einem Mann, der bisexuell ist. Hatten Sie beim Schreiben das Gefühl, mutig zu sein?
John Irving: Nein. Ich habe schon viele Male über Menschen geschrieben, die in sexueller Hinsicht Außenseiter sind. Viel schwieriger fand ich es in früheren Romanen, über Menschen zu schreiben, die nie Sex hatten. Garps Mutter oder Dr Larch in Gottes Werk und Teufels Beitrag – beide hatten nur ein Mal Sex und dann nie wieder. Oder der Erzähler in Owen Meany: Den ganzen Roman lang bin ich die Stimme eines Menschen, der nicht sagt, was er fühlt – das war sehr schwer zu schreiben. Ich kann mir sehr viel leichter vorstellen, dass jemand Sex mit Männern und Frauen haben möchte, als dass jemand überhaupt keinen Sex hat. Das finde ich wirklich unglaublich!
Kennen Sie denn solche Menschen?
Irving: Naja, aus der Entfernung. In den 50er Jahren gab es viele Männer und Frauen, oft waren es Lehrer an den Privatschulen, die allein lebten. Vermutlich waren sie schwul oder lesbisch, aber sie hatten keine Beziehung. Das war sehr verbreitet. Jeder nannte diese Menschen nicht-praktizierende Homosexuelle. Schon als Teenager habe ich mich darüber gewundert und gedacht, wenn sie es nicht tun, warum nennt man sie dann überhaupt irgendwie.
Haben Sie je gedacht, Sie selbst könnten bisexuell sein?
Irving: Nicht wirklich. Als ich dreizehn, vierzehn war, in diesen Jahren, in denen man sexuelle Gefühle hat, aber noch keine sexuellen Erfahrungen, da habe ich sehr viele Menschen begehrt. Die Mütter meiner Freunde, die älteren Schwestern meiner Freundinnen, ältere Jungen im Ringer-Team. Aber ich habe dieses Begehren nie ausgelebt. Ich glaube, die meisten Menschen, wenn sie ehrlich sind, finden in ihrer Jugend viele Menschen attraktiv. Sie sind neugierig, in einer Zeit, in der sie in sexueller Hinsicht noch nicht festgelegt sind. Natürlich sind uns diese Gefühle peinlich: Wie kann es sein, dass ich die Mutter meiner Freundin attraktiver finde als meine Freundin? Und da gibt es diesen gutaussehenden Jungen, aber ich bin doch nicht schwul! Eines Tages sind wir über so etwas hinweg. Aber es ist mein Job als Schriftsteller, mich an diese Zeit zu erinnern. Und mich zu fragen: Was wäre, wenn? Was wäre, hätte ich mit diesem älteren Jungen geschlafen?
In gewisser Weise erinnert Ihr neuer Roman an “Garp und Wie er die Welt sah”.
Irving: Das Thema ist tatsächlich das gleiche, beides sind Romane über sexuelle Intoleranz. Trotzdem sind es sehr verschiedene Bücher. Garp ist komisch, die Charaktere sind übertrieben und geradezu absurd. In beiden Romanen kommen Transsexuelle vor, aber der Football-Spieler in „Garp“ ist eher eine Satire. Miss Frost, die Bibliothekarin in „In einer Person“, ist eine realistische Figur.
Zwischen den beiden Romanen liegen rund 30 Jahre – und was noch?
Irving:Als ich „Garp“ schrieb, sah es so als, als könnte die sogenannte sexuelle Befreiung funktionieren. Es war eine extreme Zeit mit extremen Positionen auf beiden Seiten. Aids aber hat alles geändert. Auch davon handelt „In einer Person“.
Ist die Gesellschaft seit dieser Zeit nicht trotzdem toleranter geworden?
Irving: Aber sie ist auch nicht so tolerant, wie sie sein könnte. In den USA und auch in Europa sind die Menschen, die Themen wie sexueller Freiheit, sexueller Identität oder auch Abtreibung gegenüber nicht aufgeschlossen sind, heute in der Minderheit. Aber sie sind eine sehr laute und gefährliche Minderheit. Sie predigen Hass, ob im Namen der Religion oder aus anderen Gründen.
Ich habe im Internet gelesen, dass Ihr Sohn sein Coming Out hatte, während Sie am Roman schrieben, ein ungeheurer Zufall – stimmt die Geschichte?
Irving: Ja und nein. Ich habe mit den Notizen für den Roman im Jahr 2001 begonnen. Zu dieser Zeit war Everett, mein jüngster Sohn, acht oder neun Jahre alt. Wenn er damals schon schwul war, wusste das keiner. Noch nicht einmal er selbst. Ich habe erst im Juni 2009 begonnen, die Story zu schreiben, in meinem Kopf aber war sie bereits fertig, sie hat sich nicht mehr geändert. Kurz bevor ich mit dem Schreiben anfing, hatte Everett sein Coming Out und sagte mir, er sei schwul. Ich war stolz auf ihn! Die Geschichte stimmt also nur halb. Und zudem ist Billy, der Protagonist in „In einer Person“, ja auch nicht schwul, sondern bisexuell. Eine Minderheit innerhalb der Minderheit, der weder die Schwulen noch die Heterosexuellen trauen. Genauso wenig, wie sie Transsexuellen trauen.
Ein so liberaler Mensch wie Sie ist sicher glücklich über Obamas Sieg.
Irving:Ich bin nicht nur glücklich darüber, dass Obama gewonnen hat. Sondern vor allem darüber, dass Romney und sein Vize Ryan aus den Gründen verloren haben, aus denen sie verloren haben. Die Republikaner haben einen entscheidenden Fehler gemacht. Sie haben versucht, es jener lauten, gefährlichen und selbstgerechten Minderheit in ihrer Partei recht zu machen, die in sozialen Fragen auf radikale Weise konservativ ist. Diese Minderheit setzt sich zusammen aus Menschen mit einer Sexualmoral, die aus den 40er oder 50er Jahren stammt. Romney und Ryan haben einem Positionspapier zugestimmt, dass gegen Abtreibung, gegen die Schwulenehe war! Aber sie haben sich verzockt.
Es sah aber doch so aus, als wäre es knapp.
Irving: So knapp aber auch wieder nicht. Ich glaube, etwa die Hälfte der Amerikaner ist konservativer als Präsident Obama. Aber nicht in sozialen Fragen, sondern in ökonomischen. Sie betrachten Obamas Gesundheitspolitik, seine Hilfspakete für die Einkommensschwachen, seine Meinung zur Einwanderungspolitik mit Argwohn, sie denken insgeheim: Hör auf, Geld auszugeben! Über diese Fragen ist das Land wirklich geteilter Meinung. Wenn die Republikaner schlau gewesen wären, was sie nicht sind, hätten sie einen Kandidaten ausgesucht, der gesagt hätte: Ich bin für die Schwulen-Ehe, aber ich will nicht, dass die Regierung den Leuten eine Krankenversicherung bezahlt. Ich glaube, Obama hätte haushoch verloren. Ich bin froh, dass es nicht so gekommen ist.
Sie schreiben bereits am neuen Roman, erzählen Sie uns davon?
Irving:Der Roman wird „Avenue of Mysteries“ heißen, Straße der Geheimnisse, im spanischen Avenida de los Misterios. Das ist eine reale Straße in Mexiko-Stadt, dort entlang gehen die Pilger auf dem Weg zur Basilika der Jungfrau von Guadalupe. Mein Held ist ein Mann, der in Mexiko Kindheit und Jugend verbrachte und als junger Mann in die USA kam. Jetzt ist er 50, wirkt aber älter, es geht ihm nicht gut. Er nimmt viele Medikamente. Der Roman beginnt damit, dass er in einem Flugzeug sitzt, um auf die Philippinen zu fliegen. Als Kind kannte er einen Mann, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg fiel und der in Manila auf dem Militärfriedhof beerdigt wurde. Dieser Mann wollte immer dorthin reisen, hat es aber nie getan. Jetzt übernimmt mein Held das für ihn, aus sentimentalen Gründen. Aber der Leser ahnt bereits, dass ihn dort auf den Philippinen etwas Überraschendes erwartet – was, werde ich nicht verraten. Ein zweiter Handlungsstrang erzählt von der Kindheit meines Helden. Im Flugzeug gerät seine Medikation durcheinander, das stört seinen Schlaf und seine Träume. Auch seine Kindheit birgt ein Geheimnis – das ich ebenfalls nicht verrate!