Köln.. Gerhard Hauptmanns Tragikomödie „Die Ratten“ gehört auch heute noch zum Standardprogramm der Theaterbühnen. Immer mal wieder wird dem Stück über den Gegensatz von Proletariertum und Gutbürgerlichkeit neues Leben eingehaucht. Wie jetzt in Köln.

Es hat schon etwas Verblüffendes, wenn eine Theaterfigur plötzlich aus der ihr zugedachten Rolle heraustritt und selbst zu inszenieren beginnt. In Karin Henkels Kölner Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ jedenfalls reißt York Dippe in Gestalt des abgehalfterten Theaterdirektors Hassenreuter im ersten Teil des Abends die Zügel an sich. Seine Mitspieler dirigiert er mit Befehlen wie „Text bitte!“ und „Pause“ und geriert sich dabei als der große Strippenzieher.

Kleine Leute als Spielmaterial

Wollte Hauptmann in seinem Spätwerk des Naturalismus noch das unvereinbare Nebeneinander von saturierter Bürgerlichkeit und das schicksalsschwere Dasein des Proletariertums in einem riesigen Mietshaus zeigen, so entsteht nun etwas sehr viel Perfideres. Hier nimmt sich der Bürger Hassenreuter sogar heraus, das ächzende Siechtum der kleinen Leute als Spielmaterial zu benutzen, es quasi so weit zu inszenieren, dass er sich im zweiten Teil des Abends samt Familie genüsslich ins Parkett setzen kann, um das blutige Ende zu goutieren.

Bei Karin Henkel wird alles zum Spiel der Möglichkeiten. Hassenreuters Fundus auf dem Dachboden des Hauses wird zum willkommenen Selbstbedienungsladen. Mal greift man zum Rokoko-Kostüm, mal zum Ballett-Tutu, mal zum Soubretten-Outfit. Statt den von schauspielerischem Glanz träumenden Studenten Spitta sich wie im Stücktext an Schiller abarbeiten zu lassen, wird hier Shakespeare verhandelt. Und da Jan-Peter Kampwirth eine Doppelrolle spielt, darf er als Spitta den Macbeth mit blutroten Händen als Künder kommenden Unheils geben, mal als gewaltbereiter Bruno mit Krone und Buckel den Serienmörder Richard III. andeuten.

Eine Frau mit unstillbarer Sehnsucht

Wäre nicht die starke Lina Beckmann als in ausweglose Händel geratene Frau John, der Abend könnte sich womöglich ganz im Spielerischen auflösen – zumal Hassenreuter bereits Kritik übt an den Hauptmannschen Dialogen und damit an Elementares rührt. Beckmann aber zieht ihre Rolle ohne Schnörkel durch, spielt diese Frau mit der unstillbaren Sehnsucht, ihr totes erstes Kind durch ein neues zu ersetzten, mit einer selbstquälerischen Intensität, die nicht unberührt lässt. Ihr zur Seite steht Lena Schwarze als Kindslieferantin Pauline Piperkarcka, der man ein derart zerbrochenes, schmerzensreiches Dienstmädchen gar nicht zugetraut hätte.

Dass man trotzdem das Gefühl hat, dass sie alle irgendwie Marionetten des Menschenspielers Hassenreuter sind, zeugt von der Tragfähigkeit der Inszenierung. Karin Henkel bricht einen Klassiker auf und verleiht ihm damit neuen Atem.