Essen. Joanne K. Rowlings erster Roman für Erwachsene ist am Donnerstag erschienen: „Ein plötzlicher Todesfall“ hat mit dem Welterfolg “Harry Potter“ nichts zu tun. Trotz eines dramatischen Endes und vieler Konflikte ist das Buch eher Durchschnitt - und lässt beim Lesen meistens kalt.

Einen Tag lang lesen: Kritikerin Maren Schürmann hat sich Joanne K. Rowlings ersten Roman für Erwachsene in einer Marathon-Sitzung vorgenommen - und über den Tag verteilt besprochen. So hat sich ihre Meinung zu "Ein plötzlicher Todesfall" entwickelt:

Der Anfang: "Barry Fairbrother wäre lieber zu Hause geblieben."

9.35 Uhr: Ich steige ein. Und werde in den nächsten Stunden immer wieder an dieser Stelle Station machen, um von meinen Eindrücken zu berichten. Am Ende des Tages wissen Sie, ob sich das Lesen des Buches wirklich lohnt.

9.47 Uhr: Ob einem ein Buch gefallen könnte, verrät ja bereits der erste Satz. "Ein plötzlicher Todesfall" beginnt so: "Barry Fairbrother wäre lieber zu Hause geblieben. Er hatte schon das ganze Wochenende Kopfschmerzen und wollte auf keinen Fall den Redaktionsschluss der Lokalzeitung verpassen." Ich muss lachen, während ich bei mir zu Hause auf der Couch sitze - ohne Kopfschmerzen. Aber auch ich darf den Redaktionsschluss heute Abend nicht verpassen. Schließlich wollen die Zeitungsleser morgen wissen, ob auch ihnen Rowlings neuer Roman gefallen könnte.

10.05 Uhr: Schon der Anfang liest sich spannend. Barry, der mit Mary seit 19 Jahren verheiratet ist, schaut zu seinen vier Kindern. Und wie das Rowling formuliert, lässt nichts Gutes hoffen: „Sie saßen vor dem Fernseher, als sich Barry das letzte Mal von ihnen verabschiedete, und nur Declan, der Jüngste, drehte sich zu ihm um und hob kurz die Hand.“

Am Ende des Kapitels liegt Barry bewusstlos in einer Pfütze aus Erbrochenem...

„Ein großer Roman über eine kleine Stadt“

10.17 Uhr: Bei mir schellt es. Der Paketbote! Ich freu mich auf ihn wie auf den Weihnachtsmann. Der Verlag hatte mir zwar ein E-Book gemailt, aber ich will ein Buch in den Händen halten. Meine Güte, ist das dick. Zwar nicht ganz 600 Seiten, aber fast. Ich muss mich ranhalten. Noch ein schneller Blick auf den Buchdeckel: Da wird nicht zu viel über die Geschichte verraten. Nur ein einfacher Satz: „Ein großer Roman über eine kleine Stadt von einer der besten Erzählerinnen der Welt.“

10.34 Uhr: Montag – die Kapitel sind mit Wochentagen überschrieben. Anfang 40 war Barry, als sein plötzlicher Tod in dem kleinen Ort Pagford die Runde macht. Rowling zeigt uns eines der tratschenden Paare: „Samantha fand Miles manchmal lächerlich und in zunehmenden Maße, langweilig. Doch hin und wieder genoss sie seine Aufgeblasenheit so, wie sie zu formellen Anlässen gerne eine Hut trug.“

10.48 Uhr: Noch ein Paar: Ruth und Simon mit ihren Söhnen Paul und Andrew. Dem Jungen Andrew gehen eine ganze Menge Kraftausdrücke durch den Kopf. Als ob sich Rowling freuen würde, endlich auch mal „Arsch“ schreiben zu dürfen ...

10.55 Uhr: Das nächste Paar eignet sich noch weniger als Sympathieträger: Shirley und Howard. Falsch und hinterhältig wirkt die Frau. Dass ein Mann wie Barry, der auf der Uni war und als Gemeinderat wirkte, nun tot ist, findet sie „ungeheuer aufregend“. Denn: „Sie hatte Barry Fairbrother gehasst“.

Die erste angedeutete Sexszene der Harry Potter-Autorin

11.10 Uhr: Da ist sie: die erste angedeutete Sexszene der Harry Potter-Autorin. Nach Erotik klingt das nicht, wie Rowling die Affäre zwischen Gavin und Kay beschreibt. Nüchtern, sachlich hält sie fest: „Kay schien sein ungewöhnliches Durchhaltevermögen für einen Beweis seiner Virilität zu halten.“ Ah ja. Ich habe heute schon bessere Sätze gelesen.

11.15 Uhr: Meine erste größere Kritik an Rowlings „Ein plötzlicher Todesfall“: Sie lässt zu viele Leute auf einmal in der Geschichte auftreten!

Obszönitäten und Kraftausdrücke

11.35 Uhr: Andrew, der Sohn von Ruth und Simon, fährt zur Schule. Und die hat so gar nichts mit Harry Potters zauberhaftem Hogwarts zu tun. Bevor Andrew auch nur das erste Mal zur Tafel blickt, lässt Rowling ihn an eine Mitschülerin denken und ihren „über der Trainingshose blitzenden Stringtanga“. Und dann liest man noch mehr Obszönitäten, Kraftausdrücke...

11.56 Uhr: Des einen Freund, des anderen Feind: In dem kleinstädtischen Idyll hatte Barry Vertraute und Menschen, die ihn verachteten. So verbindet nicht jeder mit dem Tod des kleinen bärtigen Gemeinderats einen Verlust, sondern auch eine „Wundertüte an Möglichkeiten“. Einer wittert sogar eine „Goldgrube“. Es wird wieder spannend!

12.36 Uhr: Das klingt doch immer mehr nach dem gesellschaftskritischen Roman, wie „Ein plötzlicher Todesfall“ angekündigt wurde: Die Siedlung Fields ist mit ihren Sozialwohnungen vielen Gemeindemitgliedern ein Dorn im Auge. Faul seien die Bewohner und verantwortlich für Graffiti und den ungemähten Rasen. Genau dort ist auch Krystal aufgewachsen – das Mädchen mit dem Stringtanga. Sie spielt also eine größere Rolle in Rowlings Roman, als es zunächst die Fantasie des Jungen Andrew vermuten ließ. Kleine Erinnerung: Die heute weltweit reichste Autorin J.K. Rowling war einst Sozialhilfeempfängerin.

12.55 Uhr: Wie viel verrate ich noch? Ich will nicht zu viel vorwegnehmen...

Viele Klischees und die Akteure auf Distanz

13.05 Uhr: Wie Rowling die Wohnung einer Drogensüchtigen beschreibt, die an einem Methadonprogramm teilnimmt, klingt wirklich sehr klischeehaft: „Das Haus roch nach abgestandenem Essen, nach Schweiß und festgetretenem Dreck.“ Dann folgt das ganze Elend – verwahrlostes Kind, Prostitution, Entzugsversuche ... Und die Sozialarbeiterin denkt über diese drogensüchtige Frau: „Im Moment ... ist sie glücklicher als ich.“  J.K. Rowling – ist das Ihr Ernst?

13.46 Uhr: So viele Menschen – und jedem widmet J.K. Rowling in „Ein plötzlicher Todesfall“ mehrere Absätze oder gar Seiten. Sie erzählt von ihren teils schlimmen Schicksalen, bleibt aber auf Distanz. So berühren sie mich bisher nur wenig. Da wirken Harry Potter und seine Freunde Hermine und Ron, ja selbst Schulleiter Albus Dumbledore und Halbriese Hagrid echter. Diese Wesen aus einer anderen Welt waren einem beim Lesen viel näher als die Menschen im neuen Roman. Dabei könnten sie mit ihren Sorgen und Nöten auch in der eigenen Stadt leben.

15.20 Uhr: Der erste Sex eines Halbstarken, die sexuellen Probleme in einer langen Ehe. Das sind unter anderem Rowlings Themen, bis sie endlich in der Mitte des Buches mal wieder auf die Kluft zwischen den sozialen Schichten zu sprechen kommt. Und damit auf Fields, der Siedlung, in der laut des Mittelstands in dieser Gemeinde die „Drogenabhängigen und Sozialschnorrer“ leben, gegen denen sich die Einwohner wehren wollen. Mit solch einer Überheblichkeit, die an Harry Potters Tante und Onkel, Mr. und Mrs. Dursley, erinnern, wollen die Bewohner in Rowlings englischem Heimatort Tutshill übrigens nichts zu tun haben. Sie distanzieren sich öffentlich davon. Doch in einem Interview hatte die Autorin erklärt, dass ihr solch dünkelhaftes Verhalten aus der eigenen Kindheit durchaus vertraut sei. Will Rowling, die ehemalige Sozialhilfeempfängerin, eine alte Rechnung begleichen?

16.05 Uhr:  Sex neben dem Grab von Barry Fairbrother – was möchte die Autorin uns damit sagen? Ein Roman ist nicht gleich erwachsen, nur weil dort immer wieder Sex eine Rolle spielt. Ich brauche jetzt einen Kaffee...

Rowlings "Ein plötzlicher Todesfall" klingt oft sehr bemüht

16:56 Uhr: Ich bin enttäuscht. „Ein plötzlicher Todesfall“ klingt oft so bemüht, als ob wir es mit einer gänzlich unerfahrenen Schriftstellerin zu tun hätten. Ein Beispiel von Seite 377: Nachdem Krystal missbraucht worden ist, denkt sie: „Sie hätte es Mr Fairbrother sagen können. Er hatte gewusst, wie das echte Leben war. Einer seiner Brüder hatte im Knast gesessen.“

17:38 Uhr: Echte Ratssitzungen können ja schon zum Kopfschütteln sein. Doch was sich in Rowlings Ratssitzung ab Seite 438 abspielt, ist einfach nur beschämend platt. Da streitet der Rat darüber, wer der Gesellschaft nun mehr schadet: die arbeitsscheuen Drogensüchtigen oder die überfressenen Wohlstandsgenährten.

17:54 Uhr: Ein Mann, der seine Frau betrügt; eine Frau, die ihren Mann betrügt; Kinder, die ihre Eltern im Internet verunglimpfen; ein Vater, der seinen Sohn verprügelt: Das klingt alles nach Effekthascherei und bringt die Geschichte nur wenig voran. Dem Roman fehlt es auch nach über 500 Seiten an Tiefe. J.K. Rowling wollte in „Ein plötzlicher Todesfall“ so viel - und erreicht so wenig.

18.10 Uhr: Endspurt. Die letzten rund 35 Seiten. Und da serviert uns Rowling noch einen Toten ...

An ihren Welterfolg wird Rowling mit dem neuen Roman nicht anknüpfen

19.15 Uhr: Es gibt Bücher wie "Harry Potter", die einen verzaubern und in eine fremde Welt entführen, um die eigene für einen Augenblick zu vergessen. Es gibt Krimis, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite fesseln und das Gefühl geben, am Ende siege das Gute. Und es gibt ernst zu nehmende Romane, die berühren, die Missstände in unserer realen Welt glaubhaft zeigen und einem vielleicht sogar die Augen öffnen. J.K. Rowlings neuer Roman „Ein plötzlicher Todesfall“ zählt nicht zu diesen Büchern. Sie hat einen Durchschnittsroman geschrieben, der trotz eines dramatischen Endes und der Problematik, der Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Jung und Alt, zwischen Frau und Mann, weitgehend kalt lässt.

Trotzdem sollte er wegen der Schimpfworte und der Vergewaltigungen niemals im Regal eines Kinderzimmers landen. Immerhin: Die Kinder, die in Deutschland das erste Harry Potter-Buch gelesen haben, können selbst entscheiden, ob sie die neue Rowling lesen möchten - sie sind längst erwachsen. 450 Millionen Mal verkauften sich die sieben Potter-Bände seit 1997 weltweit. An diesen Riesenerfolg wird J.K. Rowling mit ihrem ersten Roman für Erwachsene, mit dem sie so zwanghaft etwas Großes schaffen wollte, nicht anknüpfen können.