Der amerikanische Meister der Spannungsliteratur versteht immer wieder zu überraschen. Mit „Wind“ legt er uns keinen Roman im eigentlichen Sinne vor. Stattdessen aktiviert er noch einmal die Welt seiner gigantischen Saga vom „Dunklen Turm“, um zwei starke Novellen unterzubringen.
Eigentlich hatten wir gehofft, nie wieder vom „Dunklen Turm“ zu hören. Sieben Bände lang haben wir Stephen King durch seine Welt zwischen Mittelalter und Wildem Westen begleitet, die mit geheimnisvollen Relikten aus unserer Gegenwart angefüllt ist. Und nun ist da mit „Wind“ plötzlich doch wieder ein Buch, das sich nahtlos in die Handlung der alten Saga einpassen lässt, mit vertrauten Figuren, allen voran Revolvermann Roland Deschain.
Roland als Erzähler am Lagerfeuer
King nutzt das bekannte Umfeld von Mittwelt aber nur, um zwei seiner phantastischen Novellen einen Rahmen zu geben. Indem er Roland zum Erzähler am Lagerfeuer macht, zollt er gleichzeitig der „Oral History“, der mündlichen Überlieferung also, Tribut. Und da nichts spannender ist, als einem erfahrenen Erzähler zu lauschen, wenn er sein Netz über die Zuhörer wirft, so hat auch King sich diesmal viel Mühe in Sachen Spannung gegeben.
Man erfährt zunächst etwas über die Jagd auf den „Fellmann“ aus Rolands Jugend. Da wird er von seinem Vater mit einem Gefährten in eine Gegend geschickt, in der ein nächtlicher Gestaltenwandler sein Unwesen treibt. Drei Dutzend Tote hat er bisher auf den Ranches hinterlassen, ohne dass man seiner hätte habhaft werden können. Und weil in dieser Erzählung ein kleiner Junge zum Waisen wird, der beruhigt werden muss, erzählt ihm der junge Roland mitten in der noch laufenden Geschichte zum Mutmachen eine ganz andere.
Wälder voller bizarrer Gestalten
In der geht es um den kleinen Tim, der mit seiner Mutter schwer unter dem Jähzorn des Stiefvaters leiden muss. Als der im Rausch seine Frau derart verprügelt, dass sie erblindet, macht Tim sich auf den Weg durch Wälder voller unheimlicher und bizarrer Gestalten. Er sucht den wundersamen Merlin, der ein Elixier besitzen soll, das auch tote Augen wieder heilen kann. Kings schaurige Schilderung der Wald- und Sumpfgestalten steht dabei der Beschreibung der zerrissenen Opfer des „Fellmanns“ in keiner Weise nach.
Lange nicht mehr hat der Leser aus purer Lust an der Fabuliererei ein Buch von Stephen King derart verschlungen. Am Ende fühlt er sich wie von Träumen getragen, wenn die Geschichten sich durchdringen.