„Gebt mir einen Balkon, und das Land gehört mir!“ - pflegte ausgerechnet der fünfmalige Staatspräsident von Ecuador zu sagen. Doch auch Kaiser Wilhelm II., Karl Liebknecht und Philipp Scheidemann, Hitler, Hans-Dietrich Genscher und Oskar Lafontaine nutzten den Balkon für folgenreiche Ansprachen. Doch der berühmteste steht in Verona – und ist eine Fälschung.

Für die einen ist der Balkon der Urlaubsort, für die anderen ein Logenplatz der Weltgeschichte: Wenn der jeweils amtierende Papst den Hunderttausenden auf dem Petersplatz seinen österlichen oder weihnachtlichen Segen erteilt, hat er einen guten Überblick über seine treuesten Schäfchen – und die Aufmerksamkeit von Hunderten Fernsehkameras. Aber auch die Absegnung des jeweils neuen Papstes durch die Menge findet ja auf dem Balkon statt – wenn das Konklave weißen Rauch aufsteigen ließ und sich der „Neue“ dem Volke zeigt, damit es ihm huldigt.

Der Balkon ist eben traditionell der Ort, an dem der große Einzelne zu den großen Massen spricht. Das mag sich wohl auch Wiki­leaks-Gründer Julian Assange gedacht haben, als er am Sonntag in London auf den Balkon der Botschaft von Ecuador trat – schließlich wollte er nicht nur für das politische Asyl danken, das ihm das lateinamerikanische Land gewährt, sondern auch auch den USA vorwerfen, eine Hexenjagd auf ihn zu veranstalten.

"Gebt mir einen Balkon, und das Land gehört mir!"

Womöglich weiß Assange aber gar nicht, in welcher Tradition er sich damit befindet. Denn es ist ausgerechnet José María Velasco Ibarra, ehemals Präsident in Ecuador und ein gnadenloser Populist mit ultrafeinem Gespür für die Bedürfnisse des Volkes, dem der Ausspruch zugeschrieben wird: „Gebt mir einen Balkon, und das Land gehört mir!“ Mit dieser Devise gelang es Ibarra, nicht weniger als fünf (!) Mal Staatspräsident zu werden – und das, obwohl die sofortige Wiederwahl eines Präsidenten in Ecuador verboten war. Es war aber auch die eine oder andere recht kurze Amtszeit dabei, wenn es den Militärs mal wieder gefiel, zu putschen...

Der Balkon war jedenfalls schon immer die Bühne für Staatstheater in jeder Form, als Drama, als Tragödie, als Farce.

Kaiser Wilhelm II. hat die Deutschen im Sommer 1914 mit zwei Balkonreden in den Ersten Weltkrieg gehetzt. Dafür rief vier Jahre später vom selben Balkon des Berliner Stadtschlosses Karl Liebknecht, der Führer des Spartakusbundes, das Ende des Kaiserreiches und eine sozialistische Republik aus (weshalb die spätere DDR nur diesen Balkon übrigließ, als sie das perußische Stadtschloss in Schutt und Asche legte). Aber das war mehr eine Fenster- als eine Balkonrede. Liebknecht drang nicht recht durch mit seiner Ausrufung, denn am selben 9. November hatte bereits Philipp Scheidemann vom Westbalkon des deutschen Reichstags die erste deutsche Republik ausgerufen.

Schon Romeo "balkonisierte"

Vom Balkon der Wiener Hofburg herunter erklärte Hitler einst den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag brachte Außenminister Hans-Dietrich Genscher einst vor den 4000 freiheitshungrigen DDR-Flüchtlingen im Garten der Botschaft den berühmten Satz „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...“ auf noch berühmtere Weise nicht zu Ende. Und als einst der „Saar-Napoleon“ Oskar Lafontaine voller Trotz die Brocken als Finanzminister, SPD-Chef und Bundestagsabgeordneter „Superminister“ unter Gerhard Schröder hinwarf, trat er andertags mit Söhnchen Maurice auf den Balkon seines Hauses und bat die unten versammelte Presse: „Macht schon mal Eure Fotos. Und dann hätte ich gern, dass ihr uns ein bisschen in Ruhe lasst. Tschüss!“

Ungleich bekannter als Oskar und Maurice aber wurden Romeo und Julia als Helden, deren Drama sich auf dem Balkon abspielt, weil Shakespeare seinen Romeo nicht fensterln, sondern balkonisieren ließ. Noch heute pilgern Tausende zum Innenhof der Familie Capuleti, wo es den berühmtesten Balkon zumindest von ganz Verona zu bestaunen gibt (man muss allerdings sehr fest dran glauben, denn die ganze Geschichte ist ja doch weitgehend erfunden und von Shakespeare mit seiner bekannten Neigung zum starken Dramatisieren erst zur Bühnenreife gebracht worden). Der Balkon in der Via Capello 23 ist übrigens einer der wenigen, die es zum Pilgerziel gebracht haben, trotz aller historischen Bedeutsamkeit so mancher Balkone. Ob es der von Julian Assange in der Ecuadorianischen Botschaft zu einer Fensterrede an die Welt in die eine oder in die andere Kategorie schaffen wird, steht allerdings noch dahin...