Berlin. In Berlin boomt der Historien-Tourismus: Die Mauer am Checkpoint Charlie oder Hitlers Machtzentrum an der Wilhelmstraße werden begehbare Museen

In der Hauptstadt boomt der Geschichtstourismus: Die großen Berliner Gedenkstätten melden ein zweistelliges Besucherplus, historische Sonderausstellungen erleben einen Millionenandrang. Allein ins Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ über den Fundamenten der NS-Terrorzentrale an der Wilhelmstraße, das seit nunmehr 25 Jahren besteht, kamen seit der Neu-Eröffnung im Frühjahr 2010 fast zwei Millionen Menschen. In diesem Sommer sind denn in Berlin auch drei Schauplätze des 20. Jahrhunderts aufs Neue zu entdecken – die Wilhelmstraße als Hitlers Machtzentrum, die Grenze am „Checkpoint Charlie“ und der Mauerstreifen an der Bernauer Straße.

Fast 10 Millionen Besucher kommen jedes Jahr nach Berlin, jeder dritte aus dem Ausland. Preußen, Hitler und der Mauerbau – das interessiert sogar die argentinische Ingenieurin und den iranischen Studenten. Fast drei Millionen Menschen haben sich bislang das Geschichtsgelände auf dem ehemaligen Grenzstreifen an der Bernauer Straße angeschaut.

Beim Geschichtstourismus gilt: Je sinnlicher das Konzept, desto erfolgreicher die Ausstellung. Noch bis Ende September steht im Hof des Pergamon-Museums auf der Museumsinsel das von innen begehbare 360-Grad-Panorama der antiken Großstadt. Die Vögel zwitschern, die Sonne geht auf, die Säufer schlafen auf den Marmorstufen und das Publikum ist begeistert. Gerade war die Millionste Besucherin da, Annika Rogalla aus Bochum.

Und schon Mitte September will Panorama-Künstler Yadegar Asisi das nächste historische Ganzkörpererlebnis möglich machen: „Die Mauer“ wird ein begehbares Panorama am Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße. Das gigantische Rund soll anderthalb Jahre lang einen fiktiven Berliner Herbsttag in den 80er Jahren zeigen – mit Blick über die Mauer und in die Wohnungen in Ost- und Westberlin.

Ein paar Meter weiter, im Dokumentationszentrum der NS-Terrorzentrale an der Wilhelmstraße, ist soviel historische Spielerei verpönt. Doch auch hier spült der Zeitgeist neue Methoden an. 1996 hatten die Macher der „Topographie“ 30 Infotafeln entlang der heutigen Wilhelmstraße aufgestellt, um über die Standorte der NS-Ministerien aufzuklären. „Die Wilhelmstraße“ war bis 1945 was „Bonn“ bis zum Berlin-Umzug war: ein Synonym für die Regierung. „Was sagt die Wilhelmstraße?“, fragten sich schon die Leitartikler in den Krisen der 20er-Jahre. Später wurde es schick, in der Wilhelmstraße zumindest eine Briefkastenadresse zu haben. In manchem Treppenaufgang hingen mehrere Dutzend Postkästen von Firmen und Verbänden – sogar der „Verein der Knopffabrikanten“ hatte einen.

Die neue Ausstellung „Wilhelmstraße 1933 - 1945“ über Aufstieg und Untergang des NS-Regierungsviertels bindet den Besucher jetzt auch aktiv ein: NS-Ministerien, Gestapo-Zentrale, Alte und Neue Reichskanzlei sind im Dokumentationszentrum in Form eines 2,40 Meter hohen, begehbaren Straßenmodells nachgebaut. Wer die versteckten Türen in den Fassaden öffnet, findet hinter den pompösen Fronten das Innenleben des NS-Staats, die Innereien der Diktatur und die Schreibtischtäter des Völkermords. Wer die Türen übersieht, erkennt bloß Putz, Stuck und Ornament.

Am anderen Ende des Stadtzentrums, am alten Grenzstreifen entlang der Bernauer Straße, wird unterdessen die „Gedenkstätte Berliner Mauer“ langsam fertig: Soeben sind noch einmal 1000 Quadratmeter des Geschichtsgeländes dazu gekommen – mit Stationen über Alltag und Politik im Kalten Krieg. Bis 2014 soll das gesamte 5,5 Hektar große Areal komplett sein. Doch auf den letzten Metern gibt es zähen Widerstand: Die Macher der Gedenkstätte ringen mit Hausbesitzern, die ihre Gärten auf dem Gelände des Grenzstreifens haben und angesichts der Besucherströme um ihre Ruhe fürchten. Die Berliner, sie sind zunehmend zwiegespalten: Sie brauchen den Tourismusboom, aber sie beginnen auch, ihn zu fürchten.