Köln. . Mehr als Rock’n’Roll: Bruce Springsteen singt vor 45 000 Fans und mit mehr Soul und Gospel als je zuvor. Dabei fordert er an Pfingssonntag seine musikalische Familie zum Gebet auf, für den vor knapp einem Jahr verstorbenen Saxofonisten Clarence Clemons.

Es ist ganz einfach: Je schlechter es den USA geht, desto besser ist Springsteen. Also geht es den USA im Moment vermutlich verdammt schlecht, denn Bruce Springsteen ist in Top-Form: Mehr als drei Stunden lang begeisterte er 45 000 Fans im Kölner Stadion. Mit bemerkenswert gut geölter Stimme, mit einem breiten Lächeln, in Flirt- und Spiellaune wie in seinen besten Zeiten.

Stadion-Rock kann der musikalische Marathon-Mann seit Jahrzehnten. Das führt er gleich zu Anfang mit „No surrender“ vor, mit der paradigmatischen Zeile: „Wir haben von einer Musik-Single mehr gelernt als in der ganzen Schulzeit.“ Die spannende Frage eines solchen Konzerts ist also: Von welchen Liedern aus der 40 Jahre währenden Musikkarriere sollen wir an diesem Abend was lernen?

Eines vorweg: Das Fan-Pflichtprogramm mit „Born in the USA“, „Born to run“, „Hungry Hearts“ und ein bisschen Wunschkonzert mit „American Land“ packt er in die Zugaben.

Davor steht eine Reihe von Songs, die ein sehr spezielles, neuartiges Springsteen-Feeling erzeugen: politisch wie spirituell. Die politische Botschaft ist schnell klar: Erst kommt die neue Ballade „Jack of all trades“, in der ein handwerklicher Tausendsassa sich und seine Familie durchbringen will – aber auch damit droht, die bösen Banker abzuknallen, wenn sie ihm vor die Flinte kommen.

Die Suche nach den amerikanischen Wurzeln

Danach spielt Springsteen „Atlantic City“: Die Geschichte eines Mannes, der vor Geldnot nicht ein noch aus weiß und jetzt einem finsteren Typen einen kleinen Gefallen tun wird. Die Finanzkrise hat aus Springsteens Sicht die Kraft, einen amerikanischen Alptraum zu gebären. Deswegen sucht er in seinem jüngsten Album in manchen fast schon an Irish Folk erinnernden Songs nach den Wurzeln, die einst die Träume von Freiheit, Unabhängigkeit und dem Streben nach Glück speisten.

Doch der Abend ist alles andere als eine politische Analyse. Springsteen, dessen Antwort auf drängende Lebensfragen meist lautete: Das Glück ist anderswo, irgendwo jenseits der Straßenecke oder am anderen Ende des Highways. Dieser Springsteen ist Vergangenheit. Bruce 2012 wirkt entspannter denn je, zu Hause im hier und jetzt.

Er feiert mit drei Mädels, die sich mit roten Perücken gleich dreifach als seine daheimgebliebene Ehefrau ausgeben, holt einen bemerkenswert textsicheren Steppke mit apfelgrünen Kopfhörern zum Mitsingen auf die Bühne und lächelt die ganze Zeit wie der glückliche Gastgeber eines großen Familienfestes – eine Feier der Lebenden und der Toten.

Ein Freiluftgottesdienst mit der Aufforderung zum Gebet

Denn an diesem Abend in Köln kommt eine weitere Dimension dazu: Springsteen behauptet, es sei weniger Rock als Soulmusik gewesen, die ihn durch die Jugend begleitet hat, er spielt Songs von Wilson Pickett und Smokey Robinson, gefolgt von seinem eigenen Auferstehungs-Song: „The Rising“, gewidmet den Opfern des 11. Septembers 2001.

An diesem Pfingstsonntag zelebriert Springsteen tatsächlich einen Freiluftgottesdienst: Mit Call-and-Response-Gesängen, mit der Aufforderung, sich zum Gebet zu erheben. Springsteens musikalische Familie hat vor knapp einem Jahr ihren charismatischen Saxofonisten Clarence „Big Man“ Clemons verloren – für ihn spielt jetzt der Neffe Jake. „Clarence Clemons hat die Band nicht verlassen, er wird die Band erst verlassen, wenn wir sterben“, hat Springsteen ihm in der Grabrede nachgerufen. Er hält Wort: In der allerletzten Zugabe des Abends, einem Song von 1975, steht die Zeile „Das war, als Big Man zur Band stieß“.

Genau an dieser Stelle hält die Band inne. Die Videoleinwände zeigen noch einmal Szenen aus dem Bühnenleben von Clarence Clemons. Dann folgen nur noch wenige Akkorde und der Abend endet im Jubel von 45000 Menschen, die für drei Stunden Mitglied der Springsteen-Familie waren: gelöst, getröstet, begeistert.

Bruce Springsteen

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