Essen. . Ralf Rothmann lebt in Berlin, ist aber im Revier aufgewachsen. Im Interview spricht der Schriftsteller über Helden, die zu Sozialfällen werden, über den Glauben, das Internet und die Eigenarten des Alters. In den kommenden Tagen liest er im Ruhrgebiet aus seinem neuen Erzählband „Shakespeares Hühner“.

Er erhob das Ruhrgebiet der 60er-Jahre zur unvergesslichen literarischen Landschaft: Schriftsteller Ralf Rothmann hat in seinen Romanen, von „Stier“ bis „Milch und Kohle“, das Bergarbeitermilieu ins scharfe Auge gefasst. Über Reviertypisches, vergangenes wie gegenwärtiges, sprach er mit Britta Heidemann.

Was sehen Sie, wenn Sie heute in die Region kommen? Gibt es da noch Wiedererkennbares?

Ich bin noch höchstens einmal im Jahr da, ich habe keinen Einblick in die strukturellen Veränderungen. Doch für mich ist es nach wie vor eine schöne, mein Leben begleitende Metapher, dieses Ruhrgebiet als existentielle Situation: Man gräbt sich den Boden unter den Füßen weg, um auf der Höhe eines gewissen Lebensstandards zu sein. So gesehen könnte man auch sagen, das Ruhrgebiet ist überall. Aber diese poetische Qualität der Region, die ist mir eigentlich erst in Berlin aufgegangen, aus der Distanz.

Haben Sie womöglich durch diese Prägung einen speziellen Blick auf die Welt?

Ja, vielleicht. Das subproletarische Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, zwischen hart arbeitenden Stahlwerkern und Bergleuten, das schärfte den Blick dafür, was wirklich wichtig ist im Leben. Und was ist nur Bügelfalte und Lounge-Gequatsche. Dafür bin ich sehr dankbar, so sehr ich in den erlebten und später beschriebenen Jahren im Pott auch gelitten habe. Die Sechziger Jahre, das war eine sehr von Rohheit und Gewalt geprägte Zeit für jemanden, der da heranwächst. Da haben ja sogar die Lehrer in der Schule geprügelt.

Auch in Ihren Geschichten geht es ja zumeist um die Strauchelnden, die Scheiternden.

Damals, zwischen den Zechen, herrschte diese Rudelmentalität unter jungen Männern: der Stärkste ist der Chef, und der Schwächste und Verträumteste, der ich immer war, der muss ganz hinten anstehen. Aber man hat diese Kirmesrocker, die das Wort führten, doch bewundert. Und dann kommt man nach dreißig, vierzig Jahren wieder ins Ruhrgebiet und sieht, dass all die Helden gefallen sind, Sozialfälle geworden sind. Das stimmt schon melancholisch… Ich weiß aber nicht, ob alle meine Figuren wirklich Scheiternde sind. Sie scheitern an Normen, die vielleicht selbst Ausdruck des Scheiterns sind - eines gesamtgesellschaftlichen Scheiterns, in dem es nur um Effizienz und Quantität geht, um materielle Werte. Und die wirklich existenziellen Werte, Kultur, Poesie, menschliches Miteinander, fallen unter den Tisch. Ich glaube, das Scheitern, das meine Figuren da an den Tag legen ist eines, das adelt. Das ist kein bemitleidenswertes Scheitern.

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Sie haben vorhin gesagt, das Ruhrgebiet hätte Ihren Blick geschärft für das Wesentliche – aber gehörte denn die Poesie dazu? Das war doch eigentlich ein anti-poetisches Dasein?

Die Poesie gehört insofern dazu, als dass sie damals schmerzhaft abwesend war. Das ist mir eigentlich erst klar geworden durch die Musik der Beatles und der Rolling Stones. Da kam so etwas wie Poesie in den Alltag, machte ihn erträglicher. Dazu gehören auch die ersten Erfahrungen mit Literatur, durch Bücher aus der Schulbücherei, Heinrich Böll, Hermann Hesse. Das hat diesem etwas grauen, tristen Alltag, der nur von Arbeit und Geldnot geprägt war, einen anderen Ausblick gegeben. Diesem Ausblick wollte ich mich dann wohl auch verschreiben. Das war eigentlich schon klar, als ich so 17, 18 Jahre alt war. Die Jobs waren nur dazu da, das Schriftstellerleben irgendwie zu finanzieren.

Würden Sie diesen Aufbruch heute noch als Leitmotiv Ihres Schreibens bezeichnen?

Das ist sicher noch ein Leitmotiv, wenn auch nicht mehr in dem räumlichen Sinn, den die Jugend meint. Das Weite suchen, das kann man auch auf dem Schreibtischstuhl. Aber ich glaube, jeder Tag sollte doch beseelt sein von einem Aus- und Aufbruch: von lieb gewordenen Gewohnheiten, oder Konventionen, oder Klischees. Das hat vielleicht mehr eine geistige Dimension bekommen.

Weder Berliner, noch Ruhrgebietler

Sind Sie heute ein Berliner?

Ich würde mich weder als Berliner noch als Ruhrgebietler bezeichnen. Wobei es natürlich eine gewisse Affinität gibt in der Umgangsweise. Diese Offenherzigkeit, dieses Frei-Nach-Schnauze-Reden, sicher nicht immer nur zartsinnigst, dafür aber ehrlich. Das sind erfreuliche Ähnlichkeiten.

Man könnte auch sagen, es handelt sich um eine gewisse Ruppigkeit

Ich habe diese Ruppigkeit oft zu schätzen gewusst. Vielleicht auch deswegen, weil die Leute im Kulturbetrieb selten sagen, was sie wirklich denken. Da gibt es ein eher zynisches Verhältnis zur Wahrheit.

Das klingt so, als ob sie den Betrieb meiden würden?

Ja, schon. Ich bin kein sonderlich geistesgegenwärtiger und smalltalkerprobter Mensch, ich stehe lieber am Stadtrand, schaue mir alles an und schreibe später mal was drüber. Literatur kommt aus der Stille und zielt in die Stille

Das Internet hat die Gesellschaft verändert, der gängige Vorwurf lautet, es bedinge eine Verflachung der Emotionen – wie reagiert man als Schriftsteller darauf?

Ich habe mit der ganzen Internetgesellschaft nur insofern zu tun, als ich mich jetzt über die drohende Relativierung des Urheberrechts ärgere. Das ist natürlich eine bodenlose Barbarei, die da passiert. Es ist ja aber eigentlich nicht das Internet, das für eine Verflachung der Emotionen sorgt, es sind Lebensverhältnisse, die von uns fordern, immer schneller zu funktionieren, effektiver zu sein, sich Evaluationen auszusetzen. Das Internet ist da vielleicht nur so ein Vergrößerungsglas. Es ist schon richtig, dass einem heute zuweilen eine erschreckende Gefühlskälte entgegenkommt, eine medienbedinge Verflachung des Ausdrucks. Aber dazu ist Literatur ja möglicherweise auch da, dass sie den Finger in die Wunde legt, dass sie sagt, bis hierher und nicht weiter. Dass sie den Menschen deutlich macht, sie sind aus Fleisch und Blut, und nicht irgendwas Zusammengepixeltes.

Altern ist nichts für Weicheier

Ihr letzter Roman hat sich sehr mit dem Altern auseinandergesetzt – wie verändert das Altern denn den Blick und das Schreiben?

Das Altern hat seine goldenen Seiten und seine verdammt harten Seiten. Wo habe ich das gelesen: Altern ist nichts für Weicheier. Andererseits ist das Altern auch eine erhebende Zeit, weil man so etwas wie eine Selbstgewissheit erlangt. Man kennt seine Grenzen besser als vorher, man sieht seine Horizonte, weiß, was man sich zutrauen kann. Das gibt eine schöne Sicherheit. Und das Altern hat sicher auch eine „spirituelle Dioptrie“; man sieht immer mal wieder ein Zwinkern zwischen den Wolken. Worüber noch zu schreiben wäre.

Würden Sie sich als Christ bezeichnen?

Ich bin katholisch erzogen worden, und zwar nicht unbedingt zu meinem Vorteil, wie mir scheint; und ja,. dennoch würde ich mich auch als Christ bezeichnen, ja.

Auch?

Die neben Buddha für mich faszinierendste Erscheinung ist schon Jesus Christus, was diese religiösen Mythologien betrifft. Das ist eine Figur, die mir umso näher geht, je älter ich werde. Die Bergpredigt ist möglicherweise das einzige Manifest, das ich in meinem Leben akzeptieren könnte.