München. 35 Jahre steht sie als gefeierter Star auf den Konzertpodien der Welt. Anne-Sophie Mutter ruht sich auf dem Lorbeer nicht aus. Sie engagiert sich für Zeitgenössisches und hört nicht auf, die Klassik vor dem Untergang durch Massenmusik zu verteidigen. Ein Gespräch.

Selbst wenn sie Neue Musik spielt, sind die Säle ausverkauft. Seit 35 Jahren hält die Begeisterung für Anne-Sophie Mutter an. Die Geigerin ist die große Konstante in einer schnelllebigen Klassikwelt. Vor ihren Konzerten in Dortmund und Essen sprach Lars von der Gönna mit Anne-Sophie Mutter – über die Zukunft der Klassik und den Wert einer Stradivari.

Sie geben Ihr Engagement für Neue Musik im Konzert regelmäßig ans Publikum weiter.

Es begann Mitte der 80er mit einer Uraufführung von Lutoslawski. Das war ein prägendes Erlebnis. Ich erinnere mich an die Verzweiflung und große Frustration angesichts einer völlig neuen Tonsprache. Und zugleich denke ich an das wunderbare Ergebnis: nämlich als Hebamme viel mehr bei der Entstehung eines Werkes beteiligt zu sein als es im klassisch-romantischen Repertoires möglich ist. Wie der Dialog mit einem Komponisten tiefe Einsichten verschafft, wie man eine Antwort findet, die einem bei anderen Stücken oft bitter fehlt. Ich kann ja keinen Beethoven oder Mozart fragen - es bleibt einem da oft nur das Lesen zwischen den Zeilen. Man kommt nie wirklich an. In der zeitgenössischen Musik haben wir diese Chance.

Was reizt sie noch daran?

Die Faszination der zeitgenössischen Musik hat viele Gesichter für mich. Zum einen betrifft sie mein eigenes Vermögen und Unvermögen. Es geht ja auch ums Ausloten der Grenzen. Ich lerne durch diese Musik neue musikalische Inhalte. Es gibt aber immer auch die Neuentdeckung der Körperlichkeit: Das Instrument Geige hat sich ja seit dem 18. Jahrhundert kaum weiterentwickelt. Der schier unerschöpfliche Vorrat an Herausforderung durch aktuelle Kompositionen ist darum extrem reizvoll. Aber auch die wunderbare Unbekümmertheit mancher Komponisten regt an. Als Hornisten sich einmal bei Richard Strauss über die hohen Noten beschwerten, hat er ja gesagt: „Mei. ich schreib, Sie spielen.“ (lacht). So stell’ ich mich eben auch den Herausforderungen. Ich hab’ aber auch ein gesundes Pflichtgefühl! Wer Neues spielt, erweitert das Repertoire nachfolgender Generationen.

„Vor Komponisten habe ich viel Respekt“

Mischen Sie sich ein, wenn ein neues Werk für Geige entsteht, das Sie uraufführen?

Nein, ich habe viel zu viel Respekt. Ich bin ein sehr scheuer, den Komponisten zutiefst verehrender Musiker. Nur im Ausnahmefall melde ich mich vor Uraufführungen mit einer „klagenden“ Nachfrage. Es gehört für mich zur Berufsethik, dass ich solche Probleme mit mir selbst löse. Aber ein bestätigendes Wort vom Komponisten schadet natürlich auch nicht.

Klassik ist heute eine Insel für eine kleine Gruppe. Die Insel wird immer kleiner. Was sind die Gründe?

Die kulturelle Verarmung der Menschen in unserer Gesellschaft hat sicher viele Wurzeln. Für mich beginnt es mit dem Einzug der Fernseher. Mit dem Fernsehen ist das gemeinsame Singen oder Musizieren in vielen Familien still und leise aus dem Fenster gesprungen. Aber natürlich sind auch die Schulen ein großes Problem: dass Musik so selten altersgerecht nahegebracht wird. Und in den Medien spielt sie eben auch keine Rolle - oder sie wird sehr gut versteckt, also nicht zu Zeiten, die einen normal lebenden Bürger erreichen.

Sie aber finden die Sendeplätze?

Ja, dafür bleibe ich gerne auf. Ich arbeite oft bis in die späte Nacht.

„Es wird einfach nicht natürlich mit Kultur umgegangen.“

Die Kinder, von denen wir sprechen, schlafen dann...

Wenn ich den Finger in die Wunde lege, dann kann ich nur sagen: Es wird einfach nicht natürlich mit Kultur umgegangen. Man meint Kinder seien entweder noch zu jung oder schon zu alt dafür. Und wenn sie dann schon verbildet sind, also im Massengeschmack gefangen, ist die Chance, auszubrechen, leider nicht sehr groß. Wir haben da einen tragischen Abbruch, der in meiner Generation begann. Schule und Fernsehen sind Schuld, aber vielleicht auch eine Haltung, die sich zu lange ausgeruht hat nach dem Motto: „Ach, wir haben ja alles in Deutschland, Dichter, Denker, Komponisten. Die kann man links liegen lassen.“ Es ist doch verrückt, dass junge Japaner in unserer Kultur mehr zuhause sind als die gleiche Generation hier.

Ist das Aufgabe des Staates?

Das ist mir zu einfach. Wir reden zu wenig über die Verantwortung der Eltern, ihre Kinder zu bilden. Ich frage mich aber oft, wie sie das leisten wollen, wenn beide arbeiten müssen, um die Familie durchzubringen.

„Das ist ein riesiges Gottesgeschenk“

Sie haben eine Ausnahmeposition, einen Ausnahmeberuf. In einer Welt voller Lärm und Reizüberflutung kommen Menschen, um ausschließlich Ihnen zuzuhören ins Konzert. Wie erleben Sie das?

Wenn man im Leben einer Leidenschaft nachgehen darf und im kleinen Maß sogar Positives bewirken kann, ist das ein riesiges Gottesgeschenk. Deshalb versuche ich auch, mein Leben als Musiker mit einem großen ethischen Verständnis zu leben und dem Sirenengeheul der manchmal schalen Verlockung taub gegenüber zu stehen. Mir fällt das im Übrigen nicht schwer.

Jüngeren schon eher…

Es sind nicht nur Verlockungen, es sind geradezu erpresserische Machenschaften, die es jungen Künstlern fast unmöglich machen, gradlinig zu bleiben. Es geht immer um ein Repertoire, das Massen ansprechen muss. Wie schwer es junge Musiker auch heute haben, ihren Weg zu gehen, das beunruhigt mich sehr. Mehr als die Lärmkulissen um uns herum und all die anderen Ablenkungsmanöver, um nur ja nicht zu sich selbst zu finden.

„Die Geige ist mein künstlerisches Ich“

Darf ich fragen, was Ihre Stradivari Ihnen als Wesen bedeutet?

Tja, sie ist eine singuläre Erscheinung, ganz sicher. Eine Geige lebt ja über Jahrhunderte. Auch die Musiker, die sie in dieser Zeit gespielt haben, haben sie mit ihren Seelen geprägt. Aber ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen! Kürzlich war ich auf Tournee, und dem Dirigenten ist etwas Schreckliches passiert. Er hat mir aus Versehen meine Geige aus der Hand geschlagen. Sie flog in hohem Bogen durch die Luft. Ich habe einen Riesenschrecken bekommen, aber wie durch ein Wunder ist nichts passiert.

Wissen Sie noch, was Ihr erster Gedanke war, als diese Katastrophe passierte?

In dem Moment wurde mir schmerzhaft bewusst, dass die Geige mehr ist als ein Instrument, das ich anlege. Die Geige ist mein künstlerisches Ich. Sie ist das, was ich versuche auszudrücken. Ich bin ja stimmlos ohne mein Instrument. Die Stimme, die ich habe, ist 302 Jahre alt. Ich habe eine enorme Verantwortung für sie. Und ich bin mir bewusst, dass ich ohne diese Stimme noch unbedeutender bin als mit.

Anne-Sophie Mutter Konzerthaus Dortmund, 23. Mai, Uraufführung Rihm: „Lichtes Spiel . Klavierfestival Ruhr, 2. Juli, Kammermusik von Mozart und Franck, Philharmonie Essen. Beide Konzerte sind ausverkauft