Essen.. Vor 100 Jahren starb Bram Stoker, der Vater des „Dracula“. Der Klassiker, aber auch die modernen Varianten, spiegeln unsere Sehnsüchte - der schwarze Umhang des ewigen Untoten dient als Projektionsfläche. Zum Jubiläum sind zwei neue Übersetzungen des Romans und eine Aufsatzsammlung erschienen.

Graf Dracula lebt in einem schaurigen Schloss in Transsilvanien, er hat spitze Zähne und kein Spiegelbild, er schläft tags in einer Art Sarg und trinkt nachts das Blut seiner Opfer. Die englischsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts war nicht arm an Schreckenswesen, Mary Shelleys „Frankenstein“ oder Robert Louis Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ spiegelten ebenfalls die Alpträume einer Gesellschaft im Umbruch. Mit „Dracula“ aber schuf der Ire Bram Stoker ein fast archetypisches Monster, die letztgültige Vollversion des Bösen vom Zahn bis zur Knoblauchknolle. Und so macht der ewige Untote seinen Schöpfer, dessen Todestag sich am 20. April zum 100. Mal jährt, unsterblich.

Typischerweise folgt hier der Hinweis, der Erfolg sei dem Autor nicht in die Wiege gelegt worden. Nur scheint das Bild in diesem Fall nicht ganz stimmig. Als drittes von sieben Kindern 1847 nahe Dublin geboren, blieb Abraham „Bram“ Stoker bis zu seinem siebten Lebensjahr bettlägrig; es war den Ärzten der Zeit ein Rätsel, warum er weder gehen noch stehen konnte. Dann aber durchlebte der Junge eine geradezu wundersame Wiederauferstehung. Durchs College tobte er gar als bekannter Leichtathlet und Fußballer. Die lange Reglosigkeit, das Dasein im Schatten des Lebens, die Metamorphose: Das erinnert durchaus an Stokers berühmten Romanhelden.

Bram Stoker war ein Freund von Oscar Wilde

Zunächst arbeitete Stoker als Justizangestellter; seine erste Veröffentlichung war ein juristisches Handbuch. Etwas seltsam Akribisches haftet ja auch dem „Dracula“ an, von minutiös recherchierten Zugfahrplänen bis zur Gestalt des Notars Jonathan Harker, Dracuals Gegenspieler. Seine künstlerische Seite lebte der Beamte Stoker als Theaterkritiker aus, er war mit Oscar Wilde befreundet und buhlte mit ihm um dieselbe Dubliner Schönheit: Florence Balcombe. Stoker heiratete sie 1878. Im gleichen Jahr wurde er Geschäftsführer des „Lyceum Theater“ in London und begann, eher mittelmäßige Schauerromane zu verfassen.

Als „Dracula“ 1897 erschien, hatte Stoker sieben Jahre daran gearbeitet, das Genre des Vampirromans aber keinesfalls selbst erfunden. Vorläufer waren der Vampyr aus der Feder von Lord Byron und William Polidori – ein „melancholischer Salonlöwe“, wie es im kundigen Fachbuch „Dracula unbound“ heißt –, sowie die „Monster der sexuellen Perversität“, in denen sich unterdrückte Gelüste des viktorianischen Zeitalters Bahn brachen – etwa Sheridan Le Fanus „Carmilla“ oder Leopold von Sacher-Masochs „Die Toten sind unersättlich“. Wenn der Vampir seine Zähne ins jungfräuliche Fleisch schlägt, hat der Leser ja bis heute eindringliche Assoziationen.

Graf Vlad Tepes war das historisch verbürgte Vorbild für Dracula

Weshalb blieb ausgerechnet Bram Stokers Untoter so, ja, ganz besonders untot, biss in alle Ewigkeit lebendig? Zum einen legte Stoker Dracula eine historisch verbürgte Gestalt zugrunde: Graf Vlad Tepes, „der Pfähler“, der seinen Opfern Pflöcke ins Herz gestochen haben soll, trug den Beinamen „Draculae“. Dann zeichnete er Draculas Heimat Siebenbürgen als den wilden, unbeherrschten Gegenentwurf zum nunmehr industrialisierten und bürgerlichen London. Schließlich beherrschte Stoker nicht nur die Kunst des plakativen Schreibens („Doch da sauste auch schon Jonathans Klinge blitzend nieder.“), sondern montierte auch Tagebücher, Briefe, Protokolle, Zeitungsnotizen zu einem Werk zusammen, das so zugleich einen dokumentarischen, realen Anstrich erhielt.

Vampir-Boom mit "Twilight" und "True Blood"

Historisch und dokumentarisch, sexy und lebensprall: Draculas schwarzer Umhang dient seither als Projektionsfläche. Filmemacher von Murnau bis Coppola saugten Dramatik aus dem Stoff, Schauspieler von Bela Lugosi bis Christopher Lee zeigten Biss. Dabei hat jede Zeit den Dracula, den sie verdient. Allerdings greift die Idee des blutsaugenden Bankers zu kurz, wenn es um einen Erklärungsversuch des aktuellen Vampir-Booms geht. Der moderne Untote zeige unsere eigenen Sehnsüchte, meint der Wiener Kulturwissenschaftler und „Vampirologe“ Rainer M. Köppl. Tatsächlich scheint in einer Zeit, in der alles, aber auch wirklich alles kann und überhaupt gar nichts mehr muss, die einzig mögliche Romeo-und-Julia-Lovestory eine zwischen Mensch und Vampir – wie der Serienerfolg „Twilight“ oder auch „True Blood“ beweist. Beide zeigen Vampire als machtvolle Superwesen, die ihre Sucht beherrschen und, wie in „True Blood“, gar künstliches Blut trinken. Während die Menschen ihrerseits unschuldige Vampire aussaugen. Auch das passt: Heute sind Gut und Böse eben nicht mehr so leicht zu unterscheiden.

Neue Bücher -- zwei neue Übersetzungen und eine Aufsatzsammlung zu Dracula

Zum 100. Todestag sind zwei neue Übersetzungen von Stokers „Dracula“ erschienen. Für den Steidl Verlag besorgte sie Andreas Nohl (540 S., 28 €) – sehr frei, sehr modern. Für Reclam blieb Ulrich Bossier näher am Original (550 S., 24,95 €).

Und wer Blut geleckt hat: Im Buch „Der Vampir sind wir“ fühlt Rainer M. Köppl einem Phänomen auf den Zahn (Residenz, 256 S., 21,90 €). Kulturwissenschaftliche Aufsätze versammelt „Dracula unbound“ (Rombach, 433 S., 68 €).