Berlin. . Der Schotte John Burnside führt im Roman „In hellen Sommernächten“ seine Leser gekonnt hinters Licht. Eine Begegnung mit dem Schriftsteller und Lyriker.
Es gibt so viel Licht in diesem Roman, und doch bleibt das Geschehen weitgehend im Dunkeln. In den weißen Nächten des hohen Nordens verschwinden auf der norwegischen Insel Kvaløya Menschen: Zwei Brüder, ein Tourist, später der alte Kyrre – ausgerechnet Kyrre, der an die Huldra glaubte, die verführerische, tückische Sirene. Verschollen bleibt auch das Mädchen Maia, das, glaubt man Erzählerin Liv, so furchteinflößend ist wie die Huldra selbst.
Aber – kann man Liv vertrauen? „Wenn ich zurückblicke, glaube ich nicht, dass so ganz stimmt, was ich erzähle“, gesteht sie, ziemlich am Ende von John Burnsides aufregendem, poetischem Roman „In hellen Sommernächten“. Der Schotte ist auch preisgekrönter Lyriker. Die Zeilen seiner Gedichte, die traumschönen Sätze seiner Romane sind nur die Oberfläche, die es zu entschlüsseln gilt.
Also: Ist Liv verrückt? „Vielleicht.“ John Burnside sitzt auf der Dachterrasse seines Hotels in Charlottenburg, trinkt Kaffee und isst Marmorkuchen. Der 57-Jährige strahlt, stumm betrachtet, pure Biederkeit aus. Sein Redefluss aber gleicht einer Kaskade von Assoziationen, Erinnerungen, Schlussfolgerung, ist ein erfrischendes Bad in Andersartigkeit. „Was heißt denn das, verrückt? Ich bin verrückt! Mit 16 nahm ich LSD, aber ich hatte vorher schon Visionen. Als Kind erzählte ich meiner Mutter, das ich Engel sehe, ich hatte keine anderen Worte dafür.“ Einige Male war Burnside in psychiatrischer Behandlung. Er weiß genug übers Verrücktsein, um sagen zu können: Es betrifft uns alle. „Unser Leben basiert darauf, dass Teile der Welt ausgebeutet werden. Das ist verrückt!“ In „Blister“ geißelt Burnside die Grausamkeit, die nur im wegschauenden Kollektiv möglich scheint.
Die individuelle Verrücktheit hingegen betrachtet er in milderem Licht. Auch Angelika, Livs Mutter im Roman, sehe ja Dinge, die andere nicht sehen – „aber sie ist Künstlerin und wird dafür verehrt“. Sehr sogar. Jeden Samstag schart sie einen Kreis von Männern, von Liv Freier genannt, um sich. Keinen wird sie erhören.
Anziehung und Ablehnung sind das zweite große Thema des Romans, und wieder haben die Dinge zwei Seiten. Schließlich beinhalte, so Burnside, Ablehnung nicht nur den Schmerz des Abgewiesenwerdens. Es ginge heute darum, die Huldras unserer Zeit zurückzuweisen, all die unmoralischen Angebote der Höher-Weiter-Schneller-Welt.
Und manchmal, überlegt er – mit einem Schlenker über sein Anarchistentum, die Ordnungsprinzipien der Welt, „Men in Black II“ –, manchmal macht es Sinn, gute Angebote abzulehnen. Sein nächster Gedichtband wird sich der romantischen Liebe annähern – diesem Gang ins „unsichere Gelände, wo wir uns verlieren“. Mit 20 habe er eine Frau abgewiesen, gerade weil er von Gefühlen „wie getroffen“ war. Feigheit, Weisheit? „Vielleicht ist die einzig lohnende Beziehung die unmögliche. Du lebst eben nicht glücklich bis ans Lebensende, du hast Rechnungen, Socken, Kinder.“
Die Lügen des Vaters
Der Kaffee ist getrunken, der frühlingshelle Himmel über Berlin dunkelt. Also: Ist Liv, die Zwielichtige, verrückt? Vielleicht spielt das gar keine Rolle. In seinem autobiografischen Buch „Lügen über meinen Vater“ klagt Burnside den an, der ihm die Sucht vererbte; zugleich ist das verstörende Buch die Beschwerde eines Kindes, dessen Vertrauen missbraucht wurde. Nie, sagt er, wolle er seine beiden Söhne belügen über sich und die Welt.
Aber was unterscheidet die Lügengeschichten des Vaters von den Irreführungen seines Romans? „Mein Vater hat sich selbst belogen, mit mir als Publikum.“ Liv belüge weder sich noch andere. Auch wenn die Fakten der Geschichte vielleicht nicht stimmten, könne sie doch „wahr“ sein. Ich sehe was, das du nicht siehst: für Burnside ist das gar kein Spiel, sondern nur eine Frage der Ebenen.
INFO
Im Jahr 2001 besuchte John Burnside erstmals die Insel Kvaløya, mit seiner Frau und dem Erstgeborenen ihrer beiden Söhne. Einige der Charaktere im Roman „In hellen Sommernächten“ (Knaus, 284 S., 19,99 €) haben reale Vorbilder in Menschen, die Burnside zu Freunden geworden sind. „Die weißen Nächte“, sagt Burnside, „sind die Zeit für Träume und Gespräche über das, was zählt.“