Dortmund. Ein Expertenquartett beklagt in seinem Buch „Der Kulturinfarkt“ die Verkrustung der deutschen Kulturszene und schlägt einen kühnen Schritt vor: Haushalte halbieren, Theater, Museen, Bibliotheken, Musik- und Volkshochschulen teilweise schließen. Die Kulturszene reagiert mit gelassener Ablehnung.
Es sollte eine Oper mit Weltstar-Besetzung werden. Die New Yorker Avery Fisher Hall hatte Placido Domingo für die Titelrolle in Verdis „Simone Boccanegra“ gebucht. Vor wenigen Tagen wurden die Aufführungen abgesagt – 250 000 Dollar Spenden waren weggebrochen.
Die Finanzkrise trifft das US-Kulturleben hart, das sich hauptsächlich durch private Sponsoren finanziert. Doch Firmen – auch Lehman Brothers und Merrill Lynch – streichen ihre Etats zusammen. Ein ähnliches Schicksal ereilt auch die Niederlande. Ab 2013 streicht die rechtsliberale Regierungskoalition etwa ein Viertel des staatlichen Kulturbudgets. Gefördert wird nur noch Marktgängiges.
Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz legen noch eins drauf und fordern in ihrem Buch „Der Kulturinfarkt“, das in der kommenden Woche erscheint, die Kürzung der Subventionen für Theater, Museen, Bibliotheken, Musik- und Volkshochschulen auf die Hälfte. In Zeiten, da sich auch an Rhein und Ruhr mächtige Sponsoren zurückziehen und die Ausstellungsvielfalt im Museum Folkwang und das Duisburger „Traumzeit-Festival“ gefährden, sollen nun auch noch die öffentlichen Geldgeber weiter kürzen.
Manche Einrichtungen, so die vier Kultur-Experten, könnten komplett geschlossen und die Überlebenden besser ausgestattet werden. „Über Bedeutung und Anziehungskraft verfügt nur, was Klasse hat. Klasse kostet“, heißt es in einem Gastbeitrag der vier im „Spiegel“. Weitere provokante Thesen: Kulturmanager streben in den Beamtenstatus, Kultureinrichtungen öffnen sich zu wenig dem Publikum. Die Autoren fordern eine Abkehr von der Strategie „Kultur für alle“ und halten es für falsch, die Kultur-Nachfrage mit einem vergrößerten Angebot zu stimulieren.
Beim ersten Blick auf manche Zahlen scheint das nachvollziehbar. So verfügt Deutschland über mehr als 80 Musiktheater – weltweite Spitze. Die Kosten für Opern und Theater liegen jenseits von zwei Milliarden Euro, etwa drei Viertel sind Personalausgaben. Die Häuser decken nur ein Fünftel der Kosten durch den Kartenverkauf. So wird jedes Ticket durchschnittlich mit rund 100 Euro subventioniert.
Protest regt sich
Doch gegen den Vorwurf, der Kulturbetrieb sei erstarrt, regt sich längst Protest. Jörg Stüdemann, in Dortmund Kulturdezernent und Kämmerer zugleich: „Ich halte nichts von großen Abräumkommandos, die Städte werden nicht attraktiver durch den Kulturtod“, betont er. Er kenne nicht eine Stadt, die ohne Kultur Furore gemacht habe.
Das Moerser Schlosstheater stand 2010 tatsächlich zur Disposition. Dessen Intendant Ulrich Greb kann kein sinkenden Publikumsinteresse ausmachen. Es gebe von Jahr zu Jahr mehr Nutzer, gerade bei den Jugendlichen. „Wir haben starke Vernetzungen mit sozialen Einrichtungen. Wie sollen diese Projekte aufgefangen werden bei einer Schließung?“, fragt Greb.
Schließung? In Siegen hat man 2007 das Apollo-Theater frisch eröffnet. Obwohl die Stadt im Haushaltssicherungskonzept steckte. Die finanzielle Lösung: Ein Förderverein und eine Stiftung tragen die Betriebskosten. Bislang sei die Zusage eingehalten worden, so eine Stadtsprecherin. Es bewegt sich also längst etwas.
Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrats, sieht den Anpassungsprozess, den die Buchautoren fordern, ebenfalls in vollem Gang. „Die Branche war noch nie derart auf dem Prüfstand wie jetzt“, so Höppner. Für ihn steht fest: Wird gestrichen und Kultur dem freien Markt überlassen, schwindet die Vielfalt. „Wo ich kein Angebot mache, kann auch nichts wachsen.“
Der Deutsche Museumsbund bezeichnete die im „Spiegel“ erschienenen Thesen als „gefährliche Gedankenspiele“, die missbraucht werden könnten. „Provokationen helfen uns nicht weiter, sondern gefährden leichtfertig die engagierte Arbeit der Museen und Kultureinrichtungen“, sagte der Präsident des Bundes, Volker Rodekamp. Gefragt seien vielmehr „konstruktive Ideen und Konzepte, nicht vereinfachende Thesen“.
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Auch Rolf Bolwin, Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins, sieht längst Bewegung im subventionierten Kulturbetrieb. In den vergangenen 15 Jahren seien 6500 Arbeitsplätze gestrichen worden. Die Rechnung der Autoren hinkt seiner Ansicht nach gewaltig. „Wenn man das Musiktheater in Gelsenkirchen dicht macht, bekommt das Aalto Theater in Essen davon doch nicht mehr Geld. Und wo sollen die Zuschauer aus Gelsenkirchen hin, wenn in Essen alles ausverkauft ist?“