Essen. . Stephan Graf von Bothmer ist Deutschlands gefragtester Stummfilm-Pianist. Jetzt verbeugt er sich vor „Nosferatu“
Nicht nur Hollywood ist derzeit sprachlos. Mit dem Triumph des Stummfilms „The Artist“ bei der diesjährigen Oscar-Verleihung scheint eine Kinokunstform wieder im Kommen, die über Jahrzehnte als altbacken und abgeschrieben galt. Für Stephan Graf von Bothmer war das Thema immer aktuell. Bothmer, der als gefragtester Stummfilm-Pianist Deutschlands gilt, gewinnt sogar einem Stummfilmklassiker wie Murnaus „Nosferatu“ immer wieder neue Facetten ab. Jeden Abend spielt er neue Musik, keine Aufführung gleicht der anderen. Er gibt Stummfilm-Konzerte, begleitet nicht nur einen Film. Der Erfolg gibt ihm Recht. Über 50 000 Besucher zählten seine Interpretationen zahlloser Meisterwerke, die ihn bis auf die Philippinen und nach Uruguay führten. Seine Mission: den Stummfilm bekannter zu machen. Torsten Schäfer sprach mit ihm.
Warum ausgerechnet „Nosferatu“?
Wegen des runden Jahrestags. Die Premiere des Films war im März 1922. Und weil ich diesen Film liebe. Es ist die charismatischste Dracula-Verfilmung. Die Blutsauger-Thematik an sich ist ja sexuell konnotiert. Aber das Besondere an „Nosferatu“ ist, dass der Vampir schüchtern ist.
Den Film kennt man sogar, wenn man ihn nie gesehen hat.
Mit unbekannteren Filmen lassen sich viel schwerer Säle füllen. Die Leute denken, dass ein Film, von dem sie noch nie gehört haben, schlecht sein muss, weil er ja sonst viel bekannter wäre. Die Annahme „Hab ich noch nicht gehört, kann also nicht so toll sein“ ist zwar ein natürlicher Gedanke, aber für den Stummfilm fatal falsch. Viele Filme waren verschollen, die kennen allenfalls Filmhistoriker vom Titel. Wenn die wieder entdeckt werden, können sie gar nicht im kollektiven Unterbewusstsein sein als Stummfilm, den man gerne sehen will. In den Archiven schlummern tausende Stummfilme, von denen sehr viele mindestens die Qualität von „Nosferatu“ oder „Metropolis“ haben.
Kann man ein Publikum, das mit Web 2.0 und MTV groß geworden ist, überhaupt für Stummfilme begeistern?
Ja, es ist durchaus ein junges Thema. Bei Youtube gibt es viele Filme ohne Sprache, aber mit Musik. Die sind zwar vom Videoclip abgeschaut, aber das sind eigentlich Stummfilme. Ich habe die Vermutung, dass den jungen Leuten Stummfilme viel weniger fern sind als den heute 50-Jährigen. Zumindest ist es so, dass drei Viertel des Publikums bei „Nosferatu“ unter 35 sind.
Mein Publikum besteht nicht aus Nostalgikern
Steht nach dem Erfolg von „The Artist“ jetzt ein Stummfilm-Revival an?
Eine Stummfilmrenaissance gibt es doch schon seit 30 Jahren. Jetzt haben wir eine Schwelle erreicht, an der es überschwappt. Bei „The Artist“ wird viel darüber diskutiert, ob der Erfolg an der Nostalgie liegt.
Ich glaube, dass das nur zu einem kleinen Prozentsatz der Fall ist. Mein Publikum jedenfalls besteht nicht aus Nostalgikern. Ein paar 20er Jahre-Freaks vielleicht, viele Gothic-Leute bei „Nosferatu“, aber keine Nostalgiker.
Glauben Sie, dass aktuelle Filmproduktionen den Ton vernachlässigen?
Ja, man könnte viel experimenteller damit umgehen. Man muss dazu nicht einmal etwas neu erfinden. Filme, die einem in besonderer Erinnerung bleiben, machen das häufig. Nicht jeder Film, der auf der Tonebene experimentell ist, wird auch ein Erfolg. Aber von den erfolgreichen Filmen haben erstaunlich viele eine besondere Tonebene.
Woran liegt das? Konzentriert man sich zu sehr auf die Wirkung des Bildes?
Wenn man das machen würde, wäre ich ja auch zufrieden. Ich habe das Gefühl man verlässt sich auch nicht besonders auf die Bildsprache, sondern muss alles noch mal mit einem Dialog doppeln.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Stummfilms?
Ich stelle mir eine Zukunft vor, in der man sich abends überlegen kann, ob man ins Kino, Theater oder Restaurant geht oder eben in einen Stummfilm. Dazu braucht man zum einen Leuchtturmprojekte wie diese Tournee, die Aufmerksamkeit erzeugen. Zum anderen eine Aufführungsfrequenz in den Städten, die das auch ermöglicht. Wenn man nie fündig wird, wenn man nach Stummfilmen sucht, wird man auch nicht danach schauen. Die Regelmäßigkeit ist wichtig.