Essen. . Der Pamphlet-Autor als Vorkämpfer der Gewaltlosigkeit: Hessel ist von der parlamentarischen Demokratie überzeugt und ruft die Jugend dazu auf, sich an Politiker und Partei zu wenden, um der Vorherrschaft des Kapitals einen Druck von unten entgegenzusetzen.

Eigentlich gab es Stéphane Hessel schon gar nicht mehr, an diesem 5. April 1945. Offiziell. Der Häftling aus dem KZ Buchenwald hatte allerdings überlebt, mit den Papieren eines gestorbenen Leidensgenossen. Und jetzt ließ er sich aus einem Todeszug fallen, schlug sich nach Hannover durch, zu den Amerikanern. Der ehemalige Resistance-Kämpfer Hessel zieht sich eine amerikanische Uniform an, will den Nazis den Rest geben – und fällt, erschöpft den aufbruch seiner Einheit verschlafend – wieder der SS in die Hände. Er wird, zum Erschießen, mit vier, fünf Uniformierten in den Wald geschickt. Er dreht sie um, im Angesicht des Todes: Bei der US-Army gebe es Whiskey und Zigaretten, er könne sie hinführen. Auf dem Weg zu den Amerikanern schließen sich weitere Deutsche an. Der unbewaffnete Hessel macht 14 Kriegsgefangene, ganz allein, die Amerikaner werden ihm eine Urkunde darüber ausstellen.

Vielleicht ist war es dieses Episode eines wendungsreichen Jahrhundertlebens, die Stéphane Hessel bis heute an die Macht des Wortes glauben lässt und ihn zu einem Diplomaten in Frankreichs Diensten bestimmte. Das aber wäre allenfalls Eingeweihten bekannt, wenn Hessel es nicht im zarten Alter von 93 Jahren noch zum Bestseller-Autor in ganz Europa gebracht hätte: „Empört Euch!“, eher eine knapp 30-seitige Broschüre denn ein Buch, sprach nicht nur den Wutbürgern aus der Seele, sondern – generationenübergreifend – all jenen, die ihr Unbehagen am real existierenden Kapitalismus mit sich herumtrugen, an wachsender Ungleichheit und einem ökologisch gefährdeten Planeten.

„Mein Appell ist wie eine brennende Zündschnur“, liest Hessel, was sein Verlag auf ein Plakat geschrieben hat, und fügt hinzu: „Das stimmt leider“. Wieder und wieder wird Hessel auf die Bühnen zwischen Paris und Berlin eingeladen, über 30 Mal allein in den letzten Monaten. Er ist ständig unterwegs. „Weil ich nicht Nein sagen kann“, sagt er ohne Koketterie und reißt die kräftigen Hände resignierend in die Höhe. Gestern Abend sorgte Hessel für eine ausverkaufte Lichtburg in Essen, mit über 1200 Plätzen, und die Nachfrage hätte gut und gerne ausgereicht, um auch die Grugahalle zu füllen.

Der Sohn des Berliner Schriftstellers Franz Hessel, der in Frankreich aufwuchs und seit 1936 Staatsbürger des Landes ist, spricht druckreif. Auch auf deutsch, mit einem charmanten Hauch von Akzent. Und altertümlichen Wörtern wie „Muselmänner“.

Seine kleine Kampfschrift hat er verfasst, „um den jungen Menschen Mut zu machen, sie wirken oft verzagt und resigniert und glauben, sie können ja doch nichts ändern.“

Stéphane Hessel indes glaubt mit Churchill an die parlamentarische Demokratie, weil es ein schlechtes System ist, aber kein besseres zur Verfügung steht. „Es sieht so aus, als hätten unsere demokratischen Regierungen unter dem Druck der Finanzmächte ihre Handlungsfreiheit verloren.“ Und wie gewinnen sie die wieder? „Man muss nicht nur demonstrieren, man muss an die Politiker herangehen und Druck auf sie machen, man muss in Parteien gehen, die stark genug sind, diesen Druck aufzunehmen und an die Regierungen weiterzugeben.“ Es gebe ja „gute Parteien“, die vorwärts und die Welt gestalten wollen, gegen die Macht des Kapitals, „auch wenn sie nicht so stark sind, wie ich mir sie wünsche.“

Von Obama enttäuscht

Also Parteien und keine Revolution? Hessel verweist da auf sein Geburtsjahr 1917, das Jahr der russischen Oktoberrevolution, das sei ja wohl Abschreckung genug. „Und selbst in der Resistance war Gewaltlosigkeit wahrscheinlich die bessere Methode. Unser General de Gaulle hat uns verboten, deutsche Offiziere zu erschießen, so gern man das getan hätte.“

Es gebe jedenfalls eine Marktwirtschaft, die anders funktioniere als die jetzige: „Die hört ja nur auf Milton Friedman und hätte am liebsten gar keine Regierungen.“ Hessel, der von Obama enttäuscht ist, verweist auf das Beispiel von Franklin D. Roosevelt, der 1933 mit seinem „New Deal“ die darniederliegende Wirtschaft in den USA umgekrempelt hätte – „und plötzlich wird das Land durch einen neuen Geist beherrscht, der nicht der Logik des Kapitals folgt. Es gibt eben eine Marktwirtschaft, die anders funktioniert als die jetzige!“

Wer fällt ihm als Vorbild, als Hoffnungsträger ein? „Pierre Mendes-France vielleicht, und Willy Brandt habe ich sehr bewundert.“ Also keiner der heutigen Spitzenpolitiker? Joschka Fischer fällt ihm noch ein, „der sich eingesetzt hat für etwas Neues“, und Helmut Schmidt fällt ihm noch ein, der nur ein Jahr jünger ist als er selbst.

Was er vom Arabischen Frühling hält? „In Tunesien verläuft er noch erfolgreich, die Gefahr steht in Ägypten. Wenn die Armee nicht lockerlässt und die Salafisten sich mit den Muslim-Brüdern zusammentun...“ Immerhin aber gebe es mit der Türkei ein demokratisches Vorbild in der orientalischen Welt.

Und Europa? „Europa fehlen die Visionen. Es weiß nicht, wohin es gehen soll. Es muss sich auf seine Werte besinnen, auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Was heißt das? „Dass man zum Beispiel den unglücklichen Griechen hilft, die sich schlecht benommen haben und zu viel Geld ausgegeben. Aber das ist kein Grund, sie hungern zu lassen.“

„Das Neue ist das Wichtige“, sagt der notorische Optimist und Fortschrittsfreund Stéphan Hessel. Wohlwissend, dass auch noch drei Bände auf den Markt kommen, die Gespräche mit ihm dokumentieren. Es sind Gespräche über die Liebe, über seine Bewunderung für fremde Kulturen und über – Widerstand.