Mülheim. .
Das Mülheimer Theater an der Ruhr deutet im Stück „Kaos“ Motive des italienischen Literaturnobelpreisträgers Luigi Pirandello.
Oft möchte Theater heute Spaß machen. Seine Einlassungen zum Realdrama unserer Gegenwart kommen im besten Fall ironisch daher und im schlimmsten klamaukig. Video-Wände und nackte Körper spiegeln die Zerrissenheit, Einsamkeit des modernen Menschen und wollen mit dröhnender Macht schockieren. Und manchmal gelingt das ja auch.
Der wahre Schock aber ist die Stille. Eine schwarze Bühne, mit nichts eingerichtet als einem Holzstuhl. Eine Frau in Weiß sitzt da und hält ein Buch in der Hand. Sie verrenkt sich, gehetzten Blickes, rutscht vom Stuhl herunter, windet sich in das Buch hinein, leckt es ab. Und auch die nächste Szene dieses so ganz anderen Abends am Mülheimer Theater an der Ruhr geschieht in aller Sprachlosigkeit. Vier Männer auf Stühlen: Einer rennt, scharrenden Hamsterfußes, im Sitzen. Einer steht auf in immer wiederkehrenden, zuckenden Schritten. Ein ewiger Kreislauf fremdgesteuerter Ekstase.
„Kaos“ heißt diese feierliche Messe des Minen-Spiels – knappe anderthalb wortkarge, spielstarke Stunden, die nur durch einige wenige Längen getrübt sind. Das Ensemble nähert sich spielerisch Motiven des italienischen Literaturnobelpreisträgers Luigi Pirandello; geboren 1867 auf Sizilien auf dem Landgut „Càvusu“, was „Heimat“ bedeutet und seine Wurzeln im griechischen Wort „Chaos“ hat. Und vielleicht könnte man in Pirandello ein Stück Heimat für die Mülheimer sehen.
Regisseur Roberto Ciulli nennt ihn „ein wirkliches Theatertier“, hatte er sich doch der Suche nach Wesen und Sprache des Theaters radikal verschrieben. Auch das Theater an der Ruhr glaubt ja fest an die universelle Verstehbarkeit seiner Bühnenkunst, die Inneres nach Außen wendet. Und stellt Fragen nach dem Entwurf des Selbst und des eigenen Lebens ähnlich hartnäckig wie einst der Autor.
Wenn in „Kaos“ nun Männer auf dem Laufsteg stolzieren, kraftstrotzend, affektiert. Wenn Paare tanzen und Tänzer zu Boden sinken, aufstehen, andere Partner finden. Wenn drei Damen auf dem Weg zum Tanz sich die Schminke vom Gesicht wischen, sich in staksige Greisinnen verwandeln – dann sind dies sinnliche Momente des reinen Theaterseins. Die sicht- und spürbar machen, dass eine Biografie nicht nur gelebtes, sondern auch nichtgelebtes Leben beinhaltet – das, wogegen wir uns entschieden. „Ich hätte ein Meisterwerk werden können“, sagt da eine, und ein anderer: „Ich konstruiere mich andauernd, bis der Zement meines Willens bröckelt.“
Nun mag diese Erkenntnis so neu nicht sein. Am Ende aber sehen wir ein großartiges Rudel schlafender Hunde, die geweckt werden und hyperventilierend ihren Schatten anbellen: Sehen wir uns selbst. Und so sagt dieses Stück Theaterglück, das so unbeeindruckt von allen Moden daherkommt, fast alles, was über das gegenwärtige Ich zu sagen ist. In einer Kargheit der Mittel, an deren Sparsamkeit wir uns ja demnächst mal ein Beispiel nehmen können.