Essen. . Aus dem einstigen Schmuddelkind Krimi wurde ein Entertainer mit Aufklärer-Qualitäten. Er dominiert die Bestseller-Listen

Vor 15 Jahren gab es in Deutschland 1207 aktenkundige Mordversuche. 2010 waren es erfreulicherweise fast nur noch halb so viele, 692 nämlich. In den anderthalb Jahrzehnten, die dazwischen liegen, stieg die Aufklärungsquote bei Morddelikten von 88,5 Prozent auf sage und schreibe 96,1 Prozent. Und ausgerechnet in dieser Zeit, in der die immer selteneren Morde immer häufiger aufgeklärt wurden, spielte sich der Aufstieg eines literarischen Genres ab, das anfangs noch ein Schmuddel-Image abzustreifen hatte: Der Krimi ist längst zur weltweiten Leitwährung der Literatur geworden.

Dies war einmal der Historische Roman: Bestseller des Jahres 1996 zum Beispiel waren, neben dem „Pferdeflüsterer“, noch Bücher wie Noah Gordons „Die Erben des Medicus“ oder Umberto Ecos „Die Insel des vorigen Tages“. Ein Jahr später erreichte die Welle der Geschichts-Romane, die mit Ecos „Der Name der Rose“ und Ken Folletts „Säulen der Erde“ begonnen hatte, mit dem Welterfolg „Die Päpstin“ von Donna W. Cross ihren Höhepunkt.

Seither rollt der Krimi das Feld von hinten auf, zunächst mit den in hierzulande so erfolgreichen Regional-Krimis (mit denen sich ja auch der Dortmunder Grafit-Verlag fest in der Szene etabliert hat). Zugleich wandelte sich das Image des Krimis vom gern beschwiegenen Außenseiter zum Entertainer mit Aufklärungsqualitäten. Während das Interesse an Mord und Totschlag früher noch als suspekt galt, können Partygänger und inzwischen sogar Professoren mit ihren Krimikenntnissen kokettieren. Vorbei die Zeiten, in denen der Essener Germanist Jochen Vogt als eine der wenigen universitären Spannungs-Instanzen noch spotten konnte, Literaturwissenschaftler, die den Krimi ignorieren, seien wie Ärzte, die sich für Migräne und Infarkte zu schade sind und sich stattdessen für Tropenkrankheiten interessieren.

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Heute, wo beinahe jede deutsche Landschaft zwischen Ostfriesland und Allgäu mit Regionalkrimis zugepflastert ist, entstehen reihenweise Diplom- und Doktorarbeiten über den Krimi. Und der kommt inzwischen auch nicht mehr automatisch im Taschenbuch daher – Erfolgsautoren von dem Duo Klüpfl/Kobr bis zu Jacques Berndorf und Horst Eckert werden längst mit einem Hardcover geadelt.

In den Buchhandlungen biegen sich die Krimi-Tische, und die Millionen-Erfolge von Jussi Adler-Olsen, Stieg Larsson und Henning Mankell sanieren Verlage fast im Alleingang. Auch in dieser Woche sind unter den zehn führenden Titeln der Bestsellerliste allein fünf Krimis – längst der Regelfall. Als vor ein paar Monaten die McKinseys über ein großes, namhaftes Verlagshaus in Frankfurt herfielen, stellten sie als erstes die Frage, wie man denn auf die Idee verfallen sei, ohne eine gute Krimi-Abteilung Erfolg haben zu können.

Ob man zu spät kommt, wenn man jetzt auf Krimi setzt? Ein Experte wie Reinhard Jahn, der das Bochumer Krimi-Archiv und auch den Deutschen Krimi Preis aus der Taufe gehoben hat, warnt bereits: „Es könnte sein, dass die Krimi-Welle ihren Höhepunkt erreicht hat“. Um lachend hinzuzufügen: „Das sage ich allerdings schon seit drei Jahren“.

Literarische Leistung

Die in der Wirklichkeit abnehmenden Mordzahlen lasen den Erfolg des Krimis beim Publikum wie eine Flucht aus der immer friedlicheren Wirklichkeit aussehen. Immer häufiger allerdings wird dem Krimi nicht nur Auflage zugetraut, sondern auch eine genuin literarische Leistung – Gesellschaft, Politik und Geschichte und ihr Ausgreifen auf den Einzelnen begreifbar zu machen, ganz in der Tradition von Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“ als einem der Gründungstexte des Genres. So ist einer der besten Kommentare zur deutschen Einheit in Romanform – Simon Urbans „Plan D“ – in die Form eines Thrillers gekleidet. So widmet Wolfgang Schorlau seinen jüngsten Wendelin-Dengler-Roman in bester Aufklärungs-Manier den Machenschaften der Pharmaindustrie. Und jemand wie Ferdinand von Schirach versucht gar, seine Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit (und damit auch die mit seinem Großvater) in einen Gerichts-Krimi zu kleiden.