Essen. . Die Figur Jesus hat die Literatur immer wieder beschäftigt. Aus England kommt jetzt ein provokanter Roman zu uns, der den Erlöser in das Zwillingspaar Jesus und Christus zerlegt und dadurch die Vorgänge nach Jesu Tod in einem neuen Licht zeigt.

Und wenn gar nicht der gekreuzigte, wiederauferstande Jesus den Jüngern erschienen wäre? Wenn sein Zwillingsbruder Christus, versierter Marketingexperte und Öffentlichkeitsarbeiter der frohen Botschaft, dem Wunder ein wenig nachgeholfen hätte? Wenn er selbst sich an seines toten Bruders statt präsentiert hätte? „Ja, dieser Mann sah aus wie Jesus“, staunten die Jünger, „aber gleichzeitig auch wieder nicht. Bestimmt hatte der Tod ihn verändert.“

Der britische Autor Philip Pullman erzählt im Roman „Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus“ (S. Fischer, 230 S., 18,95 Euro) von einem Zwillingspaar: dem frommen Prediger Jesus und dem gerissenen Christus. Letzterer lässt sich dazu verleiten, den historischen Fakten seine eigene „Wahrheit“ hinzuzufügen: eben jene Heilungen und Wohltätigkeiten, die dem Wanderprediger Jesus einen direkten Draht zum Himmel bescheinigen. In seinem sarkastischen Roman deutet der Brite Pullman selbst Geschichte neu und zeigt die Diskrepanz zwischen dem, was Jesus wohl gewollt haben könnte und dem, was die Kirchen tatsächlich daraus gemacht haben.

Pullmans Beitrag zu Gottes Werk ist damit der jüngste provokante Streich einer langen Reihe von Jesus-Annäherungen: in denen Literatur und Religion sich so nahe kommen wie in diesem Jahr der Ostersamstag und der seit 1996 von der Unesco am 23. April ausgerufene „Welttag des Buches“ (www.welttag-des-buches.de).

Ein Archetyp der Literatur

Als literarische Figur gehört Jesus zu den Archetypen und steht damit neben Odysseus und Faust, neben Don Juan und Kassandra. Gottes Sohn steht für Gegensätzliches: Ohnmacht und Macht, Scheitern und Größe. Gerade die Literatur des 20. Jahrhunderts fühlte sich durch die Jesusfigur – bei allem Respekt für den „Unheimlichen“, den „Unverstehbaren“ – vor allem zum Wider- und Einspruch gereizt, schreibt der Tübinger Theologieprofessor Karl-Josef Ku-schel („Jesus im Spiegel der Weltliteratur“, Patmos-Verlag, 767 S., 39 Euro). Von Anatol France oder James Joyce bis Friedrich Dürrenmatt, Heinrich Böll und Max Frisch können wir literarische Einwände lesen, die sich gegen die Institution Kirche richten oder gar ein Glaubenkönnen angesichts menschlicher Gräueltaten ganz infrage stellen.

Kurz: Jesus muss leiden unter den Literaten. Da verleiht ihm Thomas Mann im „Zauberberg“ die Gestalt des holländischen Kaffeepflanzers Peeperkorn, der bei einem Abschiedsmahl mit zwölf weiteren Sanatoriumsgästen den alkoholisierten Absturz erlebt. Da bekommt er bei Günter Grass buchstäblich eine Blechtrommel um den Hals gehängt und wird von einem Kleinwüchsigen zum sofortigen Wundertun herausgefordert.

Opferlamm des Vaters

Oder es durchleuchtet der Portugiese José Saramago die Familiengeschichte und die Psyche eines Menschen, der vom eigenen Vater zum Opferlamm gemacht wurde – für „Das Evangelium nach Jesus Christus“ wurde Saramago 1991 bitter angefeindet.

Andererseits entdeckt ein jüdischer US-Autor, Norman Mailer, noch 1997 sein Herz für Jesus und schreibt eine freundlich-knappe Biographie – nach Werken über, beispielsweise, Marilyn Monroe und Pablo Picasso. Überraschender war vielleicht nur die Verbeugung eines Ernest Hemingway, geschehen in der Gesprächsskizze „Heute ist Freitag“: Drei römische Soldaten sprechen in einer Kneipe über ihr Tagwerk und den einen, der „nicht vom Kreuz runter“ wollte: „He was pretty good in there today“ – „Der heute, der war nicht schlecht.“ Der Erlöser als echter Kerl. Jesus wäre nicht Jesus, überstünde er nicht auch dies noch.

Maß für Menschlichkeit

In den berührendsten, erschütterndsten Momenten der Literatur aber zeigt sich die Jesusgestalt als ein Maß für die Menschlichkeit in aller Welt. 1970 schrieb Jorge Luis Borges die Geschichte „Das Evangelium nach Markus“. Darin verbringt ein 33-jähriger Medizinstudent aus Buenos Aires einige Wochen auf dem Land, er liest der Bauernfamilie aus der Bibel vor. Schließlich – bauen die Bauern ein Kreuz und nageln den Studenten daran. Gewalt ohne Erlösung, das ist eine verstörende Notiz zur Lage der (argentinischen) Nation.

Jesus als Seismographen nutzte ja schon Boris Pasternak, der seinen Helden Doktor Schiwago in die Nähe der Christusgestalt rückte und so die Unmenschlichkeit der Revolution zeigte; seine Jesus-Gedichte überdauern Juri Schiwagos Tod. Und bei Toni Morrison ist Jesus eine schwarze Heilerin im Cincinnati des 19. Jahrhunderts, die als Trösterin und Erlöserin ihren Leidensgenossen Hoffnung gibt.

Literatur stellt jene Fragen, vor denen wir lieber zurückschrecken möchten: Und wenn Jesus einer von uns wäre, unter uns - würden wir ihn erkennen?