Essen. .

Mit „Marina“ gelingt Carlos Ruiz Zafón wieder ein magischer Roman. Der ist ihm in diesem Fall sogar besonders wichtig. Aber auch das Herz der Leser bleibt immer bei der Sache.

Genauso muss der Anfang eines Romans von Carlos Ruiz Zafón sein: „Marina sagte einmal zu mir, wir erinnerten uns nur an das, was nie geschehen sei.“ Das klingt verrätselt und ordentlich pathetisch. Das klingt nach alles oder nichts, aber auf alle Fälle so, dass man weiterliest. Große Schmöker nämlich liefert der Spanier allemal, auch wenn die Handlung gar nicht so selten am Kitsch schrammt, auch wenn die Figuren wie nicht von dieser Welt sind, auch wenn im Mysteriösen manches offen bleibt. Man liest und bleibt kleben.

Barcelona als Mittelpunkt

Diesen Roman hat Zafón 1996/97 in Los Angeles geschrieben und er ist ihm besonders wichtig. Seine Jugend ging damals zu Ende, wie er in einem Brief an die Leser mitteilt, und eine „andere Form des Erzählens“ begann für ihn. Seine Heimatstadt Barcelona rückte in den Mittelpunkt als eine Fata Morgana von Boulevards und engen Gässchen, als ein dubioser Sehnsuchtsort, in dem es spukt, irrlichtert und magisch orakelt. Phantasmagorien er-eignen sich hier, Geisterhaftes begibt sich, Schauerliches hebt an inmitten von Dunst und Lichtexplosionen einer Altstadt, die inzwischen verschwunden ist. Spuren aus der Vergangenheit ragen in eine kuriose Gegenwart, auf denen sich seltsame Untote begegnen und bewegen, um sich in dantesche Dimensionen zu versteigen. Mag der Kopf auch nein sagen bei dieser Lektüre, das Herz bleibt bei der Sache.

Òscar Drai heißt der Erzähler dieses Romans. Ein Internatsschüler ist er, der sich eines Tages raus aus der Burgfestung seines Bildungsinstituts und hinein ins Labyrinth der Jugendstil-Prachtstraßen begibt. Dort begegnet ihm auf einem Seitenweg die gleichaltrige Marina: weißes Kleid, heublonde Haare, „das bezauberndste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen hatte“. Wie neben der Zeit lebt sie in einer von Kerzen illuminierten Villa mit ihrem Vater. Maler war der und mit Anzug, Fliege und silberner Mähne sieht er aus wie ein Kavalier des Fin de Siècle. Natürlich kommt Òscar im-mer wieder. Natürlich wird er mehr und mehr von dieser anderen Welt aus Kunst und Wissenschaft infiziert.

Detektive in einer unglaublichen Geschichte

Säure frisst sich in die Körper, Marionetten beginnen zu leben, Hände und Gesichter gehen verloren, gigantische Architekturen brennen nieder, während die Protagonisten panisch über die Dächer hetzen. Barcelona ist wie ein großer Garten der Lüste und dieser magische Krimi eilt voran mit zweien mittendrin, die gerade noch Kinder waren. Als sich zugeneigte Detektive treffen sie die Zeugen einer unglaublichen Geschichte, in der gestorben, geschossen und orakelt wird.

Òscar und Marina geraten auf die Spur einer aberwitzigen Geschichte, die von einem alten Fotoalbum ausgelöst wurde. Ihr Weg führt über Friedhöfe und durch die Kanalisation. Dort wurde am letzten Tag des vergangenen Jahrhunderts Michail Kolwenik geboren, irgendwann einer der reichsten und einflussreichsten Männer der Stadt. Als eine Mischung aus Faust und Frankenstein forscht er den Ge-heimnissen des menschlichen Körpers hinterher mit dem Ziel, den Tod zu übertölpeln. Er ist der Herr in der Kulissenwelt dieses Romans. Nachdem der Vorhang gefallen ist, dröhnt es noch lange nach.

Carlos Ruiz Zafón: Marina. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. S. Fischer. 352 Seiten. 19,95 €