Essen.. Heinrich Steinfests Krimi zu „Stuttgart 21“ lässt die Löwen der Stadt weinen und spekuliert auf einen archäologischen Fund
Schnell steht die Aufregung von gestern im Schatten der heutigen Katastrophe. Auch der Ministerpräsident Mappus hat andere und drängendere Sorgen als vor sechs Wochen. Und hat nicht der schlitzohrige Heiner Geißler alles beruhigt? Was soll da noch ein Buch, gar ein Roman, zum Kampf um den vermaledeiten Stuttgarter Hauptbahnhof?
Und wie könnte so ein Buch überhaupt aussehen, wenn es mehr sein soll als eine Reportage? Es müsste ja vor allem „das Schwäbische“ auf beiden Seiten der Barrieren verstehen und durchschauen. Also die „schwäbische Hausfrau“, die zum Protestieren kam wie die Jungfrau zum Kind, aber auch die Politiker und Unternehmer, die an Baden-Württemberg als „Modell deutscher Möglichkeiten“ glauben und auch daran, dass sie wirklich ALLES können und dürfen (außer Hochdeutsch).
Wer diese Gemengelage beschreiben will, muss also Schwabe sein und zugleich Nichtschwabe, etwas Buchhalterisches an sich haben und einen Schuss Anarchismus. Da kommt Heinrich Steinfest, der Alt-Wiener und Neu-Stuttgarter, gerade recht. Er hat uns seit Jahren mit seinen philosophischen, schräg-fantasievollen Romanen verwöhnt. Da gab es schon mal ein Krokodil auf dem Hochhausdach, und diesmal geht es eben in die tiefste Tiefe des Projekts hinunter. Dort liegt ein bislang unbekanntes Objekt und blockiert den weiteren Ausbau. Dies Monstrum wird bald als antikes Monument oder Maschine, bald als versteinerte (oder auch nur schlafende?) Urmutter des Menschengeschlechts beschrieben. Aber jedenfalls lässt es sich nicht bewegen und blockiert den weiteren Ausbau von „Stuttgart 21“.
So kommt es nun zum Konflikt im Konflikt. Ein Wissenschaftler soll das Monstrum erkunden und wegschaffen, aber natürlich will er es lieber retten. Ein Kommissar wird aus dem Münchner Exil zurückgeholt, er stößt auf die mafiösen Verwicklung der Honoratioren. Ein biederer Wutbürger kauft sich ein Präzisionsgewehr Kaliber .308 und eine Packung Munition.
Was daraus wird? Sicher kein üblicher „Kriminalroman“ (auch wenn das auf dem Cover steht). Sondern eine ziemlich wilde Mischung aus Krimi und Science Fiction, Technik und Regionalismus, Mythologie und Märchen, die nur durch Steinfests Erzählduktus und Sprachwitz vereinheitlicht wird. Das ist auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig, erweist sich aber auf den zweiten als eine passende, vielleicht sogar die einzig mögliche Form, um diese Gemengelage von Politik, Geschäft und Korruption, von Volkszorn und Volksverachtung überhaupt erzählbar zu machen. Ältere Leser mag das an Heinrich Bölls Geschichte von Katharina Blum erinnern, auch wenn Steinfest vier Jahrzehnte gewitzter ist. Und ein Werbetexter würde wohl sagen: So geht politische Literatur heute!