Im Künstlerroman „Karte und Gebiet“ entdeckt der französische Schriftsteller Michel Houellebecq die Schönheit des Verfalls auch im Ruhrgebiet – und bringt sein literarisches Alter Ego auf grausame Weise um.

Über das Spätwerk des Künstlers Jed Martin ist viel gerätselt worden: Zeitrafferbilder, in denen die Natur technisches Gerät zu verschlingen scheint, in denen Fotoporträts verwittern, Städte untergehen im Grün. In einem Interview kurz vor seinem Tod offenbart Martin seine Inspiration: Eine Reise ins Ruhrgebiet zeigte ihm die Schönheit des Verfalls: „Die industriellen Kolosse... waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstatten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel.“

Welch Symbolkraft. Welche Ehre: für das Revier.

Michel Houellebecq hat mit seinem jüngsten Roman um den Künstler Jed Martin die höchste literarische Auszeichnung Frankreichs errungen, den Prix Goncourt. Der einstige Skandalautor findet darin zum ruhigen Tonfall tiefer Gelassenheit und ein neues Thema. Er beschreibt die Kunstszene und die Gesellschaft, die eine solche Szene gebiert. Er lässt Strömungen diskutieren, Theorien und Gegenentwürfe – und zeigt, geradezu mitleidsvoll, wie die Mechanismen des Marktes hehre Ideen zerkrümeln.

Die Karriere des Jed Martin – ein lethargischer junger Mann mit feinen Gesichtszügen – beginnt mit Fotografien der französischen Provinz: von Michelinkarten, die er so in Szene setzt, als zeige er tatsächlich Wiesen, Hügel, Küsten. Und siehe: „Zum ersten Mal seit Jean-Jacques Rousseau wurde in Frankreich alles Regionale wieder trendy.“ Es zeichnet die Laufbahn Martins aus, dass er nach einem Erfolg die erfolgreiche Arbeit einstellt. Sein nächster Schaffenszyklus entspringt Jahren der Isolation: Die Gemälde der „Serie einfacher Berufe“ tragen Namen wie „Bill Gates und Steve Jobs unterhalten sich über die Zukunft der Informatik“, sie porträtieren „den produktiven Sektor der Gesellschaft“. Für einen Ausstellungskatalog bittet Martin Michel Houellebecq um ein Vorwort.

Michel Houellebecq, der Echte, zeigt seine ganze Kunst in jenen satirischen Szenen, die sein literarisches Alter Ego betreffen. Er stellt sich als verkommenen Einsiedler dar, der ganze Tage im Bett verbringt, sei es in seinem Haus in Irland oder in der französischen Provinz. Also so, wie man sich einen „Skandalautor“ vorzustellen hat. Immer wieder nennt Houellebecq sich in feiner Ironisierung medialer Gepflogenheiten: „der Autor der Elementarteilchen“ oder „der Autor von Plattform“. Seinem eigenen Blick attestiert er „etwas Leidenschaftliches, ja geradezu Entrücktes.“

Jed Martin verfertigt zum Dank für das Vorwort ein Porträt „Michel Houellebecq, Schriftsteller“. Der Autor hängt es in seinem Landhaus auf. Kurz darauf wird er ermordet, und hier erlaubt sich Houellebecq, der Echte, eine wahre Splatter-Sauerei: Der Mörder zerlegte den Körper offenbar mit einem Laserschneider, der Raum voller Fleischbröckchen lässt Polizisten die Haltung verlieren und Jed Martin an einen schlecht nachgeahmten Jackson Pollock denken. Houellebecqs Kopf (und der seines Hundes) sitzen auf dem Sofa. Später stellt sich heraus, dass der Mord einen Kunstraub vertuschen sollte. Ein echter Jed Martin ist längst mehrere Millionen Euro wert.

Der Verfall von
Sitte und Moral

Martin zieht sich in das Haus seiner verstorbenen Großmutter zurück, kauft das halbe Dorf auf und lässt einen gigantischen Zaun bauen. Jahrzehnte später, wir befinden uns in unserer fernen Zukunft, hat Frankreich seine Industrie und Dienstleistungen ausgelagert nach Taiwan oder Brasilien. Die Franzosen leben wieder auf dem Land. Die Metropolen von gestern verfallen. „Die Vegetation“, so der letzte Satz, „trägt den endgültigen Sieg davon.“

Der einst scharfzüngige Michel Houellebecq erweist sich im neuen Werk überraschend als Menschenfreund. Leises Bedauern über den Verfall von Sitten und Moral schwingt in diesem so ruhig beobachtenden, traditionell erzählten Roman mit. In dem die Außenseiter, die „Künstler“ die einzigen sind, die gesellschaftliche Umbrüche noch zu erkennen vermögen. „Ich empfinde nur wenig Solidarität mit der menschlichen Gattung“, lässt Houellebecq sein Alter Ego einmal sagen. Sein feinsinniger Roman aber deutet auf das Gegenteil.

Der neue Roman des französischen Autors Michel Houellebecq heißt „Karte und Gebiet“, er erscheint am Mittwoch, 16. März., im Dumont-Verlag, hat 400 Seiten und kostet 22,99 Euro. Die Übersetzung von „La carte et le territoire“ stammt von Uli Wittmann.