Essen. Darf, kann, muss man einem alles verzeihen, der Opfer eines totalitären Arbeitslagers ist? Wenn einer fünf Jahre lang in russischen Lagern bestialisch gedemütigt und ausgebeutet wurde – sollte man alles erklären, rechtfertigen, nachsehen, was so jemand später tun wird? Zumindest dann, wenn der Betroffene Oskar Pastior heißt?
Darf, kann, muss man einem alles verzeihen, der Opfer eines totalitären Arbeitslagers ist? Wenn einer fünf Jahre lang in russischen Lagern bestialisch gedemütigt und ausgebeutet wurde – sollte man alles erklären, rechtfertigen, nachsehen, was so jemand später tun wird?
Es ist ausgerechnet Herta Müller, die so kluge wie unnachsichtige Nobelpreisträgerin, die sich seit Monaten vor diese Fragen gestellt sieht. Der Grund dafür ist der Avantgarde-Poet Oskar Pastior, Rumäniendeutscher wie sie, der im Oktober 2006 starb – kurz bevor er mit dem Büchner-Preis die angesehenste deutsche Literatur-Auszeichnung entgegennehmen sollte.
Wer weiß, ob Herta Müller ihren Nobelpreis ohne Oskar Pastior bekommen hätte. Es war sein Arbeitssklaven-Schicksal in den Lagern von Nowo Gorlowka und Dnjepropetrowsk, das in ihrem großen Roman „Atemschaukel“ zum erschütternden Sprachkunstwerk kristallisierte.
Doch wie viel hat dieser „Ossi“, wie Freunde ihn nannten, für den gefürchteten rumänischen Geheimdienst spioniert? Für jene Securitate, die Herta Müller so verhasst war, seit sie deren Anwerbungsversuchen widerstanden hatte und dann von ihr verfolgt, ja „zersetzt“ wurde.
Pastiors Spitzel-Akte tauchte im Sommer 2010 im Securitate-Archiv auf, Deckname: „Stein Otto“. Anhänger des Dichters waren noch erleichtert, dass es zunächst nur eine Verpflichtungserklärung aus dem Jahre 1961 gab, der zufolge Pastior sich „alle Mühe geben“ wollte, „feindliche Elemente zu enttarnen“ und nichts zu „verschweigen von all dem, was ich erfahre, ungeachtet der Person“.
Selbstmord ausgelöst?
Doch dann meldete sich der ebenfalls rumäniendeutsche Autor Dieter Schlesak zu Wort. Er fand in seiner Securitate-Akte, dass „Stein Otto“ auf ihn angesetzt war. Pastior sollte Schlesak als Lyrikredakteur einer winzigen Literaturzeitschrift überwachen. Schlesak kam nach dem Studium seiner Akte im Herbst 2010 gar zu dem Verdacht, Pastior könnte für den Selbstmord eines Dichterkollegen mitverantwortlich sein.
Nun kann man Oskar Pastior wohl nicht nur seine verstörende Lager-Erfahrung zugute halten. Er musste sich doppelt und dreifach bedrängt fühlen vom kommunistischen Regime jener Jahre: als Homosexueller, als Deutschstämmiger, als moderner Lyriker, der versuchte, seine bitteren Erfahrungen in Sprachbildern auszudrücken, die als westlich und dekadent galten. Auch Herta Müller, die es als „Ohrfeige“ empfand, dass Pastior ihr trotz ihrer Geistes- und Herzensfreundschaft nie etwas von seinen Securitate-Kontakten anvertraut hat, sieht Pastior nach dem Studium seiner Akte in der Zeit bis zu seiner Ausreise nach Deutschland 1968 „von allen Seiten umzingelt“.
Gefürchtete Beweise
Und wie bei der deutschen Stasi sind auch die Akten der Securitate nur bedingt vertrauenswürdig. So wurde Oskar Pastior von seinem Führungsoffizier bis zu seiner Ausreise als zuverlässiger Informant beurteilt – nach der Ausreise aber heißt es, „IM Stein Otto“ sei seinen Aufgaben „nur auf formale Weise nachgekommen“ und habe an der Verbindung zur Securitate kein Interesse gezeigt.
Was stimmt denn nun?
Das weiß auch der Schriftsteller Ernest Wichner nicht hundertprozentig. Er entstammt wie Herta Müller dem literarisch fruchtbaren Banat und ist heute Leiter des Literaturhauses Berlin. Wichner dürfte der beste Kenner der rumäniendeutschen Literaturszene sein. Er führt viele Verdächtigungen und Akteneinträge auf Gerüchte oder „Zersetzungsmaßnahmen“ der Securitate zurück. Wichner, der als Vorstand der Oskar-Pastior-Stiftung freilich auch Partei ist, fordert Beweise. Mancher fürchtet, sie könnten eines Tages noch auftauchen.
Was jenseits aller Ungewissheit bleibt, sind Pastiors Gedichte: Sprachmusik, die von allen finsteren Verstrickungen befreit. Und nichts weiß von Schuld.