Essen. . Die gute Luft, die dörfliche Gemeinschaft, die Nähe zu Ursprung und Natur: So erblühen Sehnsuchtsfantasien gestresster Städter in Zeiten globalisierter Krisen. Früchte der neuen Landlust sind Bücher: von Journalisten, die neue Herausforderungen auf Feld, Wald und Wiesen suchten – und die die ländliche Ruhe umgehend mit dem Klappern der Tastaturen niederzuhacken suchten.

Die gute Luft, die dörfliche Gemeinschaft, die Nähe zu Ursprung und Natur: So erblühen Sehnsuchtsfantasien gestresster Städter in Zeiten globalisierter Krisen. Früchte der neuen Landlust sind Bücher: von Journalisten, die neue Herausforderungen auf Feld, Wald und Wiesen suchten – und die die ländliche Ruhe umgehend mit dem Klappern der Tastaturen niederzuhacken suchten. Allein in dieser Saison sprießen vier neue Werke auf jenem Boden, den Dieter Moor 2009 mit seinen Erfahrungen als brandenburgischer Biobauer bereitete. Die Trend-Lektüre offenbart die komischen wie poetischen, die gemütlichen wie dramatischen Seiten der Provinz.

Martin Reichert belustigt sich über Trachtenjankerl-Träger, Einmachgeräte-Benutzer und Kräuterwiesen-Gärtner: „In Deutschland hat ein großes Gärtnern, Graben und Pflanzen eingesetzt“, so der taz-Journalist, der zwar in Berlin lebt, die Wochenenden aber bei „seinem Mann“ in einem Dorf in Brandenburg verbringt. Dort beobachtet er: Burnout-Patienten, perfektionistische Eltern oder Selbstverwirklicher. Wobei letztere es schwer hätten, weil das Publikum fehle: „Man wird wirklich, und es interessiert keine Sau.“ Ein Buch, das gar nicht erst versucht, durch Erkenntnistiefe vom Witze-Feuerwerk abzulenken.

Angelika Overrath, Journalistin und Schriftstellerin, wohnt seit Kurzem dort, wo andere Urlaub machen: Von Tübingen zog sie mit ihrem Ehemann und dem jüngsten der drei Kinder ins Dorf Sent im schweizerischen Unterengadin. Ihr Tagebuch wirft ei­nen poetischen Blick auf die traumschöne Landschaft, das Kochen von Holundersaft und das Leben in einer Gemeinschaft, deren Sprache sie sich erkämpfen muss: Rätoromanisch. Am Ende aber wird sie Gedichte darin verfassen. Und ihr Sohn Matthias, Grundschüler, blüht im Dorf auf. Und doch muss Overrath sich von ihren Tübinger Professoren-Freunden fragen lassen, ob der Junge genug Förderung erfahre. Ein persönliches, be­geistertes Buch voller Poesie: „Herbstbäume wie große Früchte“, notiert Overrath am 28. September: „Aprikosenlicht, Apfelglanz.“

Hilal Sezgin wollte raus. Als freie Journalistin lebte und arbeitete sie in Frankfurt, träumte aber vom Haus auf dem Land. Die gezielte Suche führte sie an den Rand eines 500-Seelen-Dorfes in der Lüneburger Heide. In ein (gemietetes, frisch renoviertes) Häuschen, das sie mit alten Möbeln von Ebay bestückte. Vier Jahre nach ihrem Umzug hat sie gülleresistente Stiefel und kann Schafen Spritzen geben. Auch besitzt sie Hühner: Bei der Besichtigung einer geräumten Hühnerfarm (die 10 000 Tiere aus Bio-Freilandhaltung werden alljährlich geschlachtet) wurden zehn übersehen. Sezgin erbarmte sich. Eine starke Passage über das Wesen heutiger Landwirtschaft. Denn dies klingt, bedauernd, durch: Die Erzählungen von früher, von Erntefesten, Weihnachtsbacken, sind reine Erinnerungen. Ein Buch, das klug an der Idylle kratzt – und in der Danksagung doch auch an „alle meine Tierärzte“ denkt.

Axel Brüggemann zog von Berlin in sein norddeutsches Heimatdorf, dies nimmt er zum Anlass, den Hang zum Land auf dreierlei Weise zu beleuchten: in Form des Romans, des Essays und der Reportage. Das schafft Distanz, zumal der „Roman“ auf Sex-and-the-Country setzt, ist aber dafür analytisch. Brüggemann pflügt durch Fakten: 25 Prozent der ländlichen Haushalte leben von weniger als 1300 Euro im Monat (Stadt: 18 Prozent). Nur 20 Prozent der Landbewohner haben einen „hohen Bildungshintergrund“ (Stadt: 30 Prozent). „Wer über Integrationsprobleme von Migranten in Neukölln stöhnt, sollte sich einmal die Verdummung der Deutschen auf dem Land anschauen.“ Kluge, die wegziehen. Kirchen, die schließen. Landwirte, die sich im Stall erhängen – weil ihnen die Zwangsversteigerung droht. Deutschland habe „seine Provinz im Stich gelassen“. Ein Buch als Appell – die Dörfer nicht zu Vororten verkommen zu lassen.

Und wir? Menschen, die nicht gerade freie Journalisten sind, müssen zur Arbeit ins Büro – meist in die Stadt, meist im Auto. Was uns – gedanklich oder spritfressenderweise – ins Pendeln bringt, ist eine „neoromantische Bewegung“ (Brüg­gemann): Wir träumen davon, unterm Apfelbaum zu entschleunigen, uns an der Mistgabel wirkliche Blasen zu erarbeiten. Aber „das Land“ gibt es so nicht mehr, auch das zeigt die Lektüre der schreibenden Neu-Provinzler. Deshalb ein Trost für jene, die ihre städtischen Wurzeln nicht kappen können oder wollen: Tomaten kann man sogar auf dem Balkon pflanzen!